«Namen sind ungeschriebene Geschichte»
Ausschnitt aus der Karte in der Chronik von Johannes Stumpf (1548). Zentralbibliothek Zürich, DOI: 10.3931/e-rara-5076, S. 295 («Rhecia / die zehend Landtafel / innhaltende die landschafften der Churwalhen vnd Grauwpündter»).

Zum Alträtoromanischen

Wie jede andere Sprache ist auch das Romanische aus einer dunklen Vorgeschichte herausgewachsen. Als protorätoromanisch lässt sich die kaum greifbare Phase des Übergangs vom Latein zur werdenden Volkssprache bezeichnen. Die Frühzeit der Sprache, die alträtoromanische Epoche, reicht bis zum Auftreten der ersten schriftsprachlichen Zeugnisse des Bündnerromanischen im 16. Jh. In diesem Zeitraum von weit über tausend Jahren bildete sich die Sprache in ihren Hauptzügen aus und entwickelte sich kontinuierlich weiter. Dabei ergaben sich von Anfang an in den verschiedenen Talschaften mundartliche Unterschiede in Sprachlaut und Wortschatz (vgl. hierzu die in Studis romontschs 28f. verzeichnete Literatur, Abschnitt 2.7.).

Als Quellen zur Rekonstruktion dieser frühen Sprachstände bieten sich einige wenige alte Sprachdenkmäler an. Weiter ist eine Reihe frühmittelalterlicher lateinischer Urkunden mit volkssprachlichem Einschlag erhalten, welche namentlich aus unterrätischen Kanzleien stammen. Eine sehr wichtige Informationsquelle bilden weiter die in dichter Streuung über Churrätien verbreiteten romanischen Orts- und Flurnamen, ebenso die vielen dort weiterlebenden romanischen Personennamen. Und schliesslich sind hier noch die in den alemannischen Mundarten seit dem Sprachwechsel erhaltenen romanischen Reliktwörter zu erwähnen.

Die ältesten erfassbaren Sprachdenkmäler des Rätoromanischen sind:

a) Die Würzburger Federprobe, eine Schreiberglosse aus der Zeit um die Jahrtausendwende: Randnotiz eines romanischsprachigen Schülers im Kloster St. Gallen (in der Cicero-Handschrift De officiis):
«Diderros ne habe diege muscha» 'Diderros hat nicht zehn Fliegen' (d. h. wohl: 'D. ist ein armer Teufel' oder: 'D. hat keine Lust').
Vgl. B. Bischoff und I. Müller in VRom. 14(1954), 137-146; Liver 1999, 84.

b) Die Einsiedler Interlinearversion aus dem 11. oder 12. Jh.: In einem wohl aus Pfäfers stammenden lateinischen Predigttext (aus dem 8./9. Jh.) ist vom Prediger zwischen den Zeilen («interlinear») eine Art Übersetzung eingesetzt worden, die der im Mittelalter gebräuchlichen Mittelsprache zwischen Latein und romanischer Volksmundart («latinum circa romancium») entsprach, jedoch deutliche Anklänge an das Bündnerromanische enthält. Der Charakter des Textes lässt auf Kontakte zum Deutschen schliessen, welche namentlich in Pfäfers für die besagte Zeit unschwer nachzuweisen sind. Der einleitende Satz der lateinischen Predigt lautet:
«Satis nos oportit timere tres causas, Karissimi fratres, per quem tottus mundus perit». 
Die Interlinearversion dazu: «Afunda nos des time tres causas, kare frares, per aquilla tut i lo seulo perdudo».
Übersetzt: 'Gar sehr geziemt es uns, drei Dinge zu fürchten, liebe Brüder, wodurch die ganze Welt verloren ist'.


Die sogenannte Einsiedler Interlinearversion: Text (11./12. Jh.) in einer der Volkssprache angenäherten Version (rötlich) zwischen den Zeilen des lateinischen  Predigttextes (schwarz). Stiftsbibliothek Einsiedeln, Codex 199(638), S. 452 (vgl. http://www.e-codices.unifr.ch/de/description/sbe/0199).

Hier treten bereits unverkennbare Anklänge an das Bündnerromanische, ja, an das Surselvische hervor (vgl. etwa den Textanfang in heutiges Surselvisch übertragen: Avunda descha ei a nus da temer treis caussas, cars frars ...). Zum Text und dessen Problematik vgl. eingehend Ricarda Liver in VRom. 28(1969), 209-236; ibid. 237-239 auch Gerold Hilty; ferner Liver 1999, 85ff.

c) Die Zeugenaussage im Münstertaler Urbar von 1389: In den lateinischen Text des Urbars eingeflochten erscheint eine Zeugenaussage im romanischen Wortlaut: 
«Introekk in sum la vall de Favergatscha et introekk eintt la vall de Vafergatscha; la e ucin [uein?] faitt una pu(t)nt, chun dis punt alta e chun dis aintt feder Vinayr». Übersetzt: 'Bis ins obere Ende des Tals von F. und bis ins Tal von V. hinein; dort in der Nähe [wird?] ist eine Brücke gemacht, die man hohe Brücke nennt und die man veder Vinair (Alt-V.) heisst'.  Vgl. dazu Tagliavini 1973, 398, N. 91; sowie Liver 1999, 89f.

Wie die werdende rätoromanische Sprache durch die vulgärlateinischen Vorarlberger Urkunden des 8. bis 10. Jhs. hindurchschimmert, haben Robert von Planta und Eberhard Tiefenthaler eingehend dargestellt (vgl. Planta 1920 und Tiefenthaler 1963; siehe bereits die hier weiter oben besprochene Urkunde von 744). Hier sind es eben vor allem die ungewollten Lateinfehler jener rätischen Urkundenschreiber, die uns begrenzte Einblicke in den Stand des Rätoromanischen jener Zeit vermitteln.

Auch im rätischen Gesetzbuch aus dem 8. Jh., der Lex Romana Curiensis, zeigt sich volkssprachlicher Einfluss; desgleichen in liturgisch-theologischen Codices des 9. Jhs. aus Einsiedeln und St. Gallen, wo sich zum Beispiel der Verfall der klassischen Deklination - also der Zusammenfall von Genitiv-, Dativ- und Ablativformen im Akkusativ bzw. Obliquus - deutlich verfolgen lässt.

An die sprachgeschichtliche Aussagekraft romanischer Ortsnamen in Unterrätien sei hier nur anhand eines Beispiels erinnert: Mit Blick auf die Geländenamen Pafeier und Prapafir in Wartau konnte nachgewiesen werden, dass sich die Zweikasusflexion beim Nomen, also die Unterscheidung von Nominativ- und Obliquusform, in der Sprache bis etwa ins 12. Jh. erhalten hatte. Seither lebt sie nur noch erstarrt in Wörtern und Namen weiter (siehe auch weiter unten die Ausführungen zum «Ortsnamen-s»), sowie, in verschobener Funktion, beim prädikativen Adjektiv des Surselvischen (Typus: «il cuolm ei aults» ‘der Berg ist hoch’). Vgl. Stricker 1976b; siehe auch auf dieser Website in der Rubrik «Name des Monats» (Nr. 1).

Angesichts ihres geringen Umfanges und der ihnen anhaftenden mannigfachen Unsicherheiten sind sie vereinzelten Steinchen aus dem Mosaik der mittelalterlichen Sprachverhältnisse Churrätiens vergleichbar, zu dem aber die meisten Teile nicht mehr vorhanden sind.

Die schriftsprachliche Tradition des modernen Bündnerromanischen, unserer vierten Landessprache, setzt erst im 16./17. Jh. ein. Den Anfang macht das 1527 entstandene, aber lange ungedruckt gebliebene Epos vom Müsserkrieg («Chianzun da la guerra da Müs») des Engadiner Humanisten Gian Travers (1483-1563). Von unmittelbarerer Wirkung waren dann die im Gefolge der Reformation gedruckten Bücher: Vom Oberengadiner Notar Jachiam Bifrun (1506-1572) erschienen Übersetzungen des Katechismus (1552) und des Neuen Testaments (1560), auf denen die Oberengadiner Schriftsprache (genannt «Puter») basiert. Es folgte, im Unterengadiner Idiom («Vallader»), ein Psalmenbuch (1562) des Pfarrers Durich Chiampell (ca. 1510-ca. 1582). Und in Rheinischbünden erschien 1611 aus der Feder des Pfarrers Stefan Gabriel (ca. 1570-1638) mit dem Katechismus «Ilg Vêr Sulaz da pievel giuvan» [‘der wahre Trost des Jungvolks’] das erste surselvische Druckwerk.