Das Gebiet mit dem fremdartig-vertrauten Namen Anggalrina umfasst steile Berggüter am oberen Studner Berg, unterhalb von Jakoblis Weid und Scherersweid (beim Langen Stall), über den Gütern namens Rätikon und Maienzun. Älter wurde der Name auch als «Gallrinen» geschrieben. Darin spiegelt sich der im Bewusstsein des Einheimischen bis heute lebendige Umstand, dass bei dieser Namenkategorie stets zwei Bezeichnungen nebeneinander existieren, nämlich die Sprechform mit An- (anderswo auch In-), und daneben eine zweite ohne dieses Anhängsel, die als Schreibform gilt und in der dann manch einer den «eigentlich richtigen» Namen zu sehen glaubt. Zu diesem Spannungsfeld sind einige Erläuterungen nötig.
Richten wir unseren Blick – wie stets – zunächst auf die urkundlichen Formen. Dank ihnen können wir hier die Namensentwicklung immerhin über eine Zeitspanne von mehr als einem halben Jahrtausend überblicken. Und das ist nur ein Teil der Geschichte: der Name ist noch einiges älter. Neben der sprachlichen Herkunft des eigentlichen Namenkörpers (Galrina) steht hier also die Deutung des erwähnten Anhängsels An- im Vordergrund. Dazu müssen wir etwas ausholen.
Bäuerlicher Alltag im Maienberg Anggalrina am oberen Studner Berg, unter dem imposanten Haupt des Margelchopfs. Bild: Hans Jakob Reich.
In der herkömmlichen Sprechweise sagt der kundige Einheimische sinngemäss folgendermassen: 1. «dort ist Anggalrina», 2. «ich gehe Anggalrina (= an Galrina)», 3. «ich bin Anggalrina (= an Galrina)», 4. «ich komme von Anggalrina». Für den Aussenstehenden eine wunderliche Schaukelpartie – teils (1, 4) ist «Anggalrina» der Name, dann wieder, je nach Gesprächssituation (2, 3), muss das «an» als freie Präposition sozusagen entlassen werden, und als Namensform bleibt «Galrina». Zugezogene Grabser Einwohner haben von dieser merkwürdigen, auf ihre Art aber folgerichtigen Ausdrucksweise natürlich keine Ahnung – und auch bei den Einheimischen ist heutzutage wohl schon die Mehrheit diesem Hin und Her nicht mehr gewachsen. Es ist fast nur noch die ältere bäuerliche Bevölkerung im Berggebiet, die hier noch Bescheid weiss, und zwar ganz ohne über solche Dinge nachzudenken - einfach aus alter Gewohnheit.
Geschichte und Bedeutung dieser eigentümlichen, aber sprachgeschichtlich bedeutsamen Verschmelzung von deutscher Ortspräposition und romanischem Namenkörper kann hier nachgelesen werden (unter https://www.werdenberger-namenbuch.ch/werdenberg/sprache/vom-romanischen-zum-deutschen/deutsche-ortspraeposition-verbunden-mit-romanischen-namen/).
Die ältesten Nennungen des Namens Anggalrina finden sich an zwei Stellen im Grabser Urbar von 1463 (beide auf Seite 14): «… dishalb dem weg obnen an Gallrinen» und «… an Hainrichs Schnellen guot an Gallrinen». Ist nun letzteres zu verstehen als «Heinrich Schnellen Gut [genannt] Anggalrina», oder aber als «Heinrich Schnellen Gut [gelegen] an Galrina»?? Beides ist denkbar, wenn auch nicht zuverlässig auseinanderzuhalten, da sich bei der damaligen Schreibart die getrennte Schreibung «an Gallrinen» keineswegs sicher bewerten lässt – wie umgekehrt auch die Zusammenschreibung im Beleg 1537 «… bärg angelrinen gelegen» eine gewisse Unsicherheit offenlässt. Besser steht es beim Beleg 1614: «… ab einem Meyen säss am grapsser [!] berg gelegen genant An galrinen». Hier wird das Gut also klar Anggalrina genannt, also in der heutigen Sprechform. Auch aus dem Satz von 1691: «Item wir hend angfangen Angalrinen an dem Rüti Güötli …» geht klar hervor, dass die Namensform Anggalrina (in der Weise, wie der Bauer noch heute sagt) damals schon durchaus gebräuchlich war. Vermutlich war dieser Gebrauch (Schreibungen hin oder her) durchaus noch älter, also schon damals seit Jahrhunderten so eingebürgert. In einem Beleg um 1640 hinterlässt der Schreiber nun gar noch eine doppelt genähte Version mit «Meyenberg an Angalrinen». Das kann man auch heute hören: «hüt simmer i Anggalrina jomm gsiin» (neben dem als korrekt geltenden, aber eben heute im Rückzug begriffenen «hüt simmer Anggalrina jomm gsiin»).
Und nun die sprachliche Herkunft des Grundnamens? Der Lokalhistoriker David Heinrich Hilty wollte im Jahr 1890 den Namen Anggalrina mit dem Wort Galerie f. ‘Empore, Laufgang, balkonartiger Aufbau’ verbinden, nämlich als romanische Ableitung auf die Verkleinerungsendung -ina (was nach ihm ein galleri-ina ergeben hätte). Er begründet die Deutung mit dem Umstand, dass die Güter dieses Namens am Studner Berg «auf hervortretendem Gelände» liegen. Das trifft zwar zu – aber man muss einwenden, dass romanisch gallaria f. vor allem ‘Felsengalerie, Stollen’ bedeutet und keineswegs ein alter, volkssprachlicher Ausdruck ist, der für solche tausendjährige Namen im altromanischen Raum in Frage käme. Ganz davon abgesehen, dass sich das Wort nur schlecht mit der Endung -ina verbinden liesse. Nein, der Vorschlag kommt nicht in Betracht.
Er ist auch überflüssig, denn über die wirkliche Herkunft des Namentyps kann seit langem gar kein Zweifel aufkommen. Er bezieht sich nämlich, sehr einleuchtend, auf die Bezeichnung einer Pflanze, deren Vorkommen (kollin-subalpin) bei uns allgemein bekannt ist, nämlich den Haselstrauch (lat. Córylus avellána). Dieser heisst romanisch cóller m. (was über volkslateinisch *cólurus auf lateinisch córylus zurückgeht (vgl. Flora Helvetica Nr. 260). Dazu wurde eine Ableitung auf -ina gebildet (die hier wohl eher kollektive als verkleinernde Bedeutung annimmt), nämlich altromanisch coller-ina f./koll. ‘Gebiet mit Haselbüschen’; dieses wurde dann zu Col’rina > Galrina zusammengezogen. Im Werdenberg ist Anggalrina übrigens der einzige Vertreter dieses Namentyps; in Deutsch- und Romanischbünden kommt er als Cularina und ähnlich mehrfach vor.
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