«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Aspere

(Sevelen)

Stellen wir uns vor, wir stehen am unteren, vorderen Seveler Berg, beim Weiler Hof, und richten den Blick talwärts. Vor uns liegt das unruhig bewegte Gelände, das den Blick auf das Dorf Sevelen verdeckt: nordostwärts die abrupt zur Mulde namens Boden abfallende Ansawand, gekrönt vom Ansaspitz, der dem Dorf Rückendeckung gegen Westen gibt. In südöstlicher Richtung erblickt man die breite Mulde von Falschnära (von wo man über Plana und zwischen Termhalde und Chalchofen hindurch nach Gretschins und Oberschan gelangt). Auf der Südseite des Felskopfs Ansa führt ein Einschnitt zum Chlinberg hinüber, und von dort an geht die Chlinberggass an Gastanells vorbei und über Ermatin hinunter ins Dorf. Südlich an den Hof anschliessend, im Tälchen der Saar, gegen Falschnära zu, liegt in einer Eintiefung das Gut namens Löchli, und unmittelbar östlich von diesem, nördlich bei Falschnära, erhebt sich südseitig hoch über der Chlinberggass der Hügelkopf genannt Aspere. Auf drei Seiten ist dieser bewaldet, nur die südseitige Abflachung gegen Falschnära hin ist Wiesland.

Der beim Hof stehende Betrachter sieht rechts den bewaldeten Hang genannt Aspere, links aussen die Ansawand, dazwischen in der Vertiefung den Chlinberg, von wo es über Ermatin ins Dorf hinunter geht. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Heute geht es uns um die Frage, woher der Name Aspere kommt. Heinrich Gabathuler machte hierzu den ersten Vorschlag. Er ging von der Vorstellung aus, dass eine Römerstrasse hier durchgeführt habe, von Süden (Plana) her durch den Boden (westlich am Ansa vorbei) und gegen St.Ulrich zu: «Hier stieg die alte Römerstrasse, von Plana herkommend, in den Boden hinunter, eine richtige via aspera, eine ‘raue Strasse’», schreibt er. Das sieht sprachlich auf den ersten Blick recht überzeugend aus; die Aussprache des lateinischen Adjektivs asper ‘rau’ würde demnach in unserem Aspere fast unverändert weiterleben. Dennoch erheben sich Zweifel. Erstens ist lat. asper in der romanischen Volkssprache nicht heimisch geworden (was die Wahrscheinlichkeit des Vorschlags schon einmal reduziert). Das Wort kommt in der Ortsnamengebung ganz Graubündens überhaupt nur vor in den aus der mittelalterlichen Feudalzeit stammenden Burgennamen Aspermont in Trimmis und Jenins (vgl. Rätisches Namenbuch Band 2, S. 26). Dazu kommt, dass keineswegs jede volkstümliche Meinung bezüglich angeblicher «Römerstrassen» auch historisch gesichert ist – meines Wissens auch hier nicht. Gabathulers Vorschlag ist daher durchaus als unwahrscheinlich einzustufen.

Nun gibt es in der Ortsnamenkunde eine Binsenwahrheit, die besagt, dass überall dort, wo sich jüngere Erklärungsmöglichkeiten bieten, dem Rückgriff auf älteres Sprachgut mit Vorsicht zu begegnen sei. Das ist auch hier nicht anders: Es muss nämlich zur Erklärung von Aspere nicht auf die romanische und schon gar nicht auf die lateinische Sprache zurückgegriffen werden.

Vom Oberen Geienberg her gesehen ist das Gebiet Aspere genau in der Bildmitte, rechts davon das flache Wiesland bei Falschnära, darüber der Beginn der Chalchofenwand, die sich südwärts bis gegen das Gschinser Riet hin zieht. Im Hintergrund jenseits des Rheins erkennt man Triesen. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Man erinnere sich an Namen wie Albere (Gams), Ärbseren (Sevelen), Gerstere (Sennwald), Gersteren (Grabs), Hirschere (Gams), †Nessleren (Wartau), dann auch die mundartliche Bezeichnung Hanfere f. ‘Hanfpflanzung; Ort, wo die Hanfäcker des Dorfes beieinander liegen’. Die Endung -ere(n) zeigt nämlich in solchen Fällen an, dass die im Namen vorkommende Pflanze an der betreffenden Stelle von Natur aus oder durch Anpflanzung in grosser Menge zu finden sei (im Fall von Namen, die Kulturpflanzen bezeichnen, wie Gerste oder Erbse, kann je nach den Umständen auch eine Übertragung auf vergleichbare Wildpflanzen vorliegen). In den eben erwähnten Namenbeispielen finden sich also (der Reihe nach) die folgenden Pflanzenbezeichnungen (alle mit der Endung -ere[n]): mundartl. Alber f. ‘Pappel’ (gewöhnlich ‘Silber- oder Weisspappel, Populus alba’, auch ‘Schwarzpappel Populus nigra’); mundartl. Ärbs f. ‘Erbse (Pisum)’, ‘Bohne (Phaseolus); Gerste f. ‘Getreideart mit langen Grannen (Hordeum)’; alt mundartl. Hirsch m. ‘Hirse (Panicum miliaceum)’; Nessel f. ‘Vertreter der Pflanzenfamilie der Nesselgewächse (Urticaceae)’; Hanf m. ‘einjährige krautige Pflanze aus der Familie der Hanfgewächse (Cannabis sativa)’. Nach der Betrachtung dieser Beispiele kann sicher nicht mehr in Zweifel gezogen werden, dass sich auch unser Namen Aspere mit einem deutschen Pflanzennamen völlig zwanglos verbinden lässt, nämlich mit der Espe oder Zitterpappel (Populus tremula), die schon im Althochdeutschen als aspa bezeugt ist und mundartlich Aspe f. heisst. In Sennwald kommt dieses Grundwort zweimal als Name (Aspen1 und Aspen2) vor, gleichermassen als Aspa in Frastanz, als Aspaloch in Bartholomäberg (Montafon). Nichts hindert uns also, unsere Aspere in Sevelen auch diesem Pflanzennamen zuzuordnen und damit den Rückgriff auf die raue Römerstrasse (lateinisch via aspera) getrost zu unterlassen. Ob heute im Raum Aspere die Espe oder Zitterpappel noch immer vorkommt, ist mir dabei nicht näher bekannt; fest steht jedenfalls, dass dies von der Ortslage her sehr wohl möglich ist (siehe Flora Helvetica, S. 332: Verbreitung kollin, subalpin).

Nochmals, vom Hof her gesehen, die waldige Erhebung namens Aspere, davor das Gut im Löchli. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Kehren wir zum Schluss nochmals kurz zu der im Alemannischen viel verwendeten Endung -ere(n) zurück, um noch eine weitere Beobachtung zu ihr nachzutragen. Sie verbindet sich nämlich nicht nur mit Pflanzennamen allein - es sind da noch andere Kombinationen möglich. Der Name Stoberen (Sennwald) etwa zeigt uns, dass dort die Endung sich mit dem Verb stauben (lokal stooben) ‘(vom Schnee) durch den Wind getrieben, in Gestalt von Staub herumfliegen, stöbern’ verbindet.

Vorsicht ist ebenfalls geboten bei einem Fall wie Guferen (Grabs) und Guferen (Wartau: dort gleich zweimal, einmal als nördlicher Dorfteil von Trübbach, dann als Waldgebiet zwischen Elabria und Flidachöpf): Das ist nämlich kein echter Fall auf -eren, denn in ihm steckt die einfache Dativ-Mehrzahlform «in den Guferen» zu dem von den Walsern hierhergebrachten walliserdeutschen Gufer m. ‘Stein’, das man bei uns heute nicht mehr kennt. Die Bezeichnung ist in Grabs bezogen auf das Bergsturzgeröll, welches nacheiszeitlich den Voralpsee gestaut und das Vorgelände bis zum Rogghalm hinunter mit Felsbrocken überschüttet hatte. Auch in Wartau bezieht sie sich auf Gebiete mit Steingeröll (vom Trüebbach) bzw. mit Felstrümmern (von der Gauschla her). Dieser Fall ist also von der Endung -ere(n) überhaupt fernzuhalten. Doch damit wollen wir hier schliessen.

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