«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Bruedermäl

(Gams)

Der auffällige Name haftet an einem Heimwesen am unteren Hinderberg. Dieses liegt rund 500 m südwestlich der Kirche, über der Wildhauserstrasse und unter dem Weiler Chretzibach, zwischen Müllerhus und Gensrüti. Das Gelände ist im mittleren Teil des Gebiets flacher. Die Bezeichnung hat zu vielen Spekulationen Anlass gegeben, und der Volksmund hat sie mit sagenhaften Ereignissen ausgeschmückt. Dass diese Geschichten den Weg zum Ursprung wirklich weisen können, ist wenig wahrscheinlich: Geschichten können auch nachträglich entstanden sein, um eine Erklärung zu konstruieren. Beginnen wir also die Suche.

Das erste Mal stossen wir auf unseren Namen im Gamser Gangbrief von 1462. In diesem Dokument wurden die öffentlichen Gassen der Gemeinde festgehalten, und auch schmalere Pfade wurden in ihrem Verlauf beschrieben. Viele Güter konnten früher nur auf Flurwegen und über fremde Grundstücke erreicht werden, um den Dünger auszubringen oder den Nutzen wegzuführen. Während der Wachstumsperiode und bis zur Ernte aber mussten aber die Fluren geschont werden. Solche Güterwege durften also nicht das ganze Jahr über benützt werden. Im Gangbrief finden sich dazu eingehende Bestimmungen. So ist auf S. 3 des ehrwürdigen Urbars von den Wegen am Hinderberg die Rede – etwa vom Fussweg, der vom Müllerhus durch «des Struben seligen Feld» (Strubenhus!) und durch den Wolfsagger gegen Steinen und Tungenlitte hinaufführte (und von dort weiter bis in die Allmend). Und es wird bestimmt: «Item aber sol man gewalt haben [= befugt sein] zufaren … durch des Früömessers veld mit buw [= Dünger] jn und uß unn in Brueder maid och mit buw in und vß und wenne der buw also jnbracht wirt so soll der selb weg dannenthin mengklichen [= fernerhin für jedermann] offen sin bis ze sant Jörgen tag [23. April]». Die Regel, wonach ab dem Georgstag oder «Jörgi» die Felder geschont und nicht mehr betreten werden durften, galt übrigens weit herum.

Hier, Im Gangbrief von 1462, lässt sich der Name Bruedermäl zum ersten Mal nachweisen. Überraschend ist dabei die abweichende Form, die als «Brueder maid» (oder doch «-mad»?) zu lesen ist. Man fragt sich: Ist diese Form ‑maid oder ‑mad die ursprüngliche? Woher kam sie? Und wie konnte daraus unser -mäl werden? Oder steht doch -mäl dem Ursprung näher?

Das Heimwesen Bruedermäl (Kreuzchen) am untersten Hinderberg.

Wie so oft, vollzog sich auch hier die Entwicklung im Dunkel der Geschichte – leider verfügen wir seit dieser Nennung aus dem 15. Jh. über keine weiteren alten Belege zu unserem Namen. So fehlen uns die sicheren Anhaltspunkte für eine schlüssige Erklärung, und wir sind daher letztlich auf Mutmassungen angewiesen.

Auch die alten Gamser wurden aus dem Bruedermäl nicht klug. So ersannen sie verschiedene sagenhafte Geschichten:

Variante 1: Zwei Söhne sollten das Heimwesen teilen. Sie kamen überein, dass jeder soviel behalten solle, als er an einem Tag zu mähen vermöge. Der eine mähte schnell, der andere langsam. Bald ermüdete der erste. Da rief ihm der zweite zu: «Bruder, mäh!». So mähte dieser wieder, bis er tot hinfiel. Daher hiess das Heimwesen fortan Brueder mäh, was dann zu Bruedermäl geworden wäre.

Variante 2: In der Zeit der grossen Pest versammelten sich die letzten überlebenden Gamser an diesem Ort zu einem Mahl, welches sie «Brudermahl» nannten. Daraus wurde der Name.

Variante 3: In der Pestzeit seien wegen der grossen Ansteckungsgefahr viele Pestkranke ausserhalb des Dorfes abgesondert und in christlicher Bruderliebe täglich mit einem Mahl versorgt worden; daher der Name.

Soweit der Volksmund mit seiner naiven und intuitiven Art der Deutung: Der Name wird in bekannt scheinende Elemente aufgeteilt, und diese werden zu einer Erzählung verdichtet. Solche Geschichten, auch wenn sie konstruiert sind, kommen dem Bedürfnis nach einem eingängigen, «verständlichen» Erzählmuster entgegen. Sie sind daher in ihrer Schlichtheit beim Volk beliebt – oft beliebter als die komplizierten wissenschaftlichen Erörterungen mit ihrem rationalen Wenn und Aber und dem oft unsicheren Schluss. Dennoch sind aus fachlicher, rationaler Sicht Zweifel halt oft unumgänglich.

Auch die oben wiedergegebenen Geschichten sind wohl «zu schön, um wahr zu sein» … Dass mähen oder Mahl mit der (allerdings selber ungewissen) Urkundform Bruedermaid nicht zusammenpassen, ist das eine. Und dass man nicht einmal dem Brueder sicher trauen kann, das andere …

Vielleicht muss überhaupt ein anderer Weg gesucht werden. Wie, wenn der Name ursprünglich gar nicht deutsch wäre, sondern romanisch, und erst im nachhinein in diese deutsche Form gepresst worden wäre? Solche Fälle kommen nämlich recht häufig vor.

Erinnert sei an ein anderes Beispiel, etwa an den romanischen Namen Prad’arsa (‘verbrannte Wiese’), welcher im Liechtensteiner Unterland (in Ruggell) nach der Verdeutschung zu Prodarsch wurde. Dass man darin nun etwas Deutsches sah, geht deutlich genug hervor aus einer Notiz von 1722, wo der Name als Breitarsch geschrieben erscheint (denn für ‘breit’ sagt man dort bròòt). Solche Umdeutungen eines romanischen Namens kommen des öftern vor; sie ist auch in unserem Fall möglich – vielleicht ist sie sogar wahrscheinlich. Es bietet sich hier gleich mehr als eine Möglichkeit der Anknüpfung an.

Zum Beispiel lässt sich zu Bruedermäl eine romanische Urform prau da maila ‘Apfel(baum)wiese’ denken, welche auf einer Stufe *Prodamail zu Bruedermäl umgeformt und zum Teil neu gedeutet worden ist. Beweisen lässt sich das zwar nicht, aber es spricht auch nichts dagegen, weder sprachlich-formal noch inhaltlich.

Eine zweite Möglichkeit: Werfen wir nochmals einen Blick in die Liechtensteiner Namenwelt (die mit der unseren ja eng verwandt ist). Viele kennen den Vaduzer Alpnamen Pradamee. Und mancher wird auch den Triesenberger Namen Parmezg (Wieshang südöstlich von Gnalp) schon gehört haben. Diese Namen gehen beide auf romanisch pra(u) d’imez bzw. pra(u) mez ‘mittlere Wiese’ zurück. Nicht zu übersehen ist, wie kräftig beide mit dem Sprachwechsel abgewandelt worden sind – im Fall von Parmezg (das 1355 noch als Prodimiz erwähnt wurde) ist die Ablenkung nach dem Wort Metzg ‘Schlachthaus’ ja offenkundig - auch wenn im Namen kein wirklicher Zusammenhang zum deutschen Sachwort vorhanden ist. Solche Neuanknüpfungen können also ganz willkürlich geschehen. 

Warum dies hier erwähne? Auch unser Bruedermäl liesse sich (formal und inhaltlich) in dieser Gruppe leicht unterbringen: Die beiden Formen (Pradamee – Bruedermäl) sind ja ganz ähnlich strukturiert, und auch gegen die romanische Bedeutung ‘mittlere Wiese’ wäre hier wohl wenig einzuwenden.

Doch das war’s dann auch schon. Weiter ist hier nicht zu kommen; schon so haben wir den Bogen der Spekulation recht weit gespannt. Bis zum Schluss bleibt das Problem, dass sich der Beleg von 1462, Brueder maid, mit seinem -maid (oder -mad?) in diese Überlegungen nicht recht einfügen will. Ist -maid bereits selbst das Ergebnis einer deutschen Einmischung? Oder darf die nur vereinzelte Schreibform selbst angezweifelt werden? Hat sich der Schreiber geirrt oder verhört?

Wir müssen diese Fragen offenlassen. Der Fall zeigt uns aber einmal mehr, dass durchaus nicht bei jedem Namen die Voraussetzungen gegeben sind für eine hieb- und stichfeste Entscheidung. 

 

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