«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Chretzibach

(Gams)

Die Bezeichnung Chretzibach kommt in der Gemeinde Gams, am Hinderberg, zweifach vor. Zum einen als Name eines Baches, zum anderen als Bezeichnung eines Weilers nördlich vom BĂŒel und sĂŒdlich vom Wolfsagger, ĂŒber dem Wiesland namens BruedermĂ€l. Das FliessgewĂ€sser Chretzibach1 fliesst aus dem Gebiet Chamm (östlich der Stoggweid) in sĂŒdöstlicher Richtung herunter bis unter den gleichnamigen Weiler; unter BruedermĂ€l unterquert es die Wildhauserstrasse, wird von dort an MöslibĂ€chli genannt und ist fortan teils eingedolt; als Wettibach fliesst es schliesslich in den Dorfbach. Droben im Weiler Chretzibach2 kreuzen sich seit alter Zeit die Wege, fĂŒhren in alle Richtungen. Es ist augenscheinlich, dass der Name ursprĂŒnglich dem Bach galt und erst dann auf die an dessen Lauf liegende Siedlung ĂŒbertragen wurde. Doch woher stammt der Bachname?

Im recht reichhaltigen Archiv der Ortsgemeinde Gams liegen mehrere Schriftquellen, in welchen wir den Namen Chretzibach antreffen. ZunĂ€chst zu nennen ist ein «Capitalbuch der FrĂŒhmesspfrund» aus dem Jahr 1763, wo sich auf Seite 20 der Eintrag findet: «  stosset [
] fĂŒrsich an den kretzenbach». Dort ist sicher nicht die Siedlung, sondern der Bach gemeint (nĂ€mlich als seitliche Begrenzung einer bestimmten Parzelle). Dann findet sich im «Zinsrodel der Pfarrpfrund» von 1778, auf Seite 8, der Name einer Person: «Joseph Keisser im Kretzen bach», und hier wiederum ist eindeutig vom Weiler die Rede.

AuffĂ€llig ist, dass in beiden (und in weiteren) FĂ€llen im 18. Jh. der Name (mit Blick auf die zweite Silbe) nicht wie heute mit Chretzibach, sondern mit Chretzenbach wiedergegeben wurde. Es kann daher gut sein, dass der Übergang von -e(n)- zu -i- eine ziemlich junge Erscheinung darstellt, wohl dadurch ermöglicht, dass der Sinn des Namenteils Chretzen- unterdessen dunkel geworden war. Da der Name im ĂŒbrigen keine RĂ€tsel aufgibt, beschrĂ€nkt sich hier die DeutungsbemĂŒhung ganz auf dieses Wortelement.

Gams und der Gamserberg. Links im Bild der Hinderberg mit dem Chretzibach. - Bild: Hans Jakob Reich.

Dabei stellte sich mir bald die Vermutung ein, der Name der Gemeinde Gretzenbach (Bezirk Olten, Kanton Solothurn) könnte mit unserem Bach- und Weilernamen identisch sein. Wir behielten daher auch diese Spur im Auge. Im «Solothurnischen Namenbuch», Bd. 1 (Solothurn 2003), wird der Gemeindename auf den Seiten 326-330 abgehandelt. Die dort zitierten Ă€lteren Deutungen gehen meist aus von einem schweizerdeutschen Worttyp Gretz m. ‘junger, auch verkrĂŒppelter Spross eines Baumes oder Strauches’, bzw. (im Wallis) Gretze f. ‘Rute, Gerte’ oder Gretzi (koll.) ‘abgefallene oder abgehauene dĂŒrre Reiser von BĂ€umen oder StrĂ€uchern; Reisig’ (vgl. Idiotikon 2, 836 und 4, 952). Paul Oettli, «Deutschschweizerische Ortsnamen» (1945), S. 64, schliesst sich dieser ErklĂ€rung an: «Reisig von BĂ€umen und StrĂ€uchern, namentlich von Tannen und Fichten sammelt man am Gretzenbach’». Dem fĂŒgt Erich Meyer («Von der Herkunft der solothurnischen Ortsnamen». Monatsbeilage zum Oltner Tagblatt I, 1948, Nr. 4) eine weitere These hinzu: «Hingegen ist ein Personenname nicht ausgeschlossen: Grazzo.»

Die Stellungnahme des Autors des Solothurner Namenbuches zu diesen frĂŒheren Deutungen bleibt verhalten. Zwar sei die Verbindung von dt. Bach mit einer Pflanzenbezeichnung «an sich nicht abwegig», doch wĂŒrde man eher Feuchtgebietspflanzen wie Rohr oder Binse denn das unspezifische Gretzen erwarten. Die Annahme des seltenen (fast nur romanisch oder langobardisch bezeugten) Personennamens Grazzo wird dann vom Autor als einleuchtender akzeptiert: Gretzenbach sei also (so die Schlussaussage) zu verstehen als sekundĂ€rer Siedlungsname, entweder mit dem Personennamen Grazzo oder mit schweizerdeutsch Gretze.

Dass die Solothurner Kollegen vom Gamser Chretzibach nichts wussten, diesen also nicht in ihre Überlegungen einbeziehen konnten, ist ihnen nicht zu verdenken. Umgekehrt war es fĂŒr mich leichter, unseren Gamser Fall (zunĂ€chst ganz intuitiv) mit dem ungleich bekannteren solothurnischen Gretzenbach in Beziehung zu setzen. Diese doppelte Blickrichtung hatte nun aber zur Folge, dass mich die eben zitierten ErklĂ€rungsversuche durchaus nicht ĂŒberzeugten, weder fĂŒr Gretzenbach noch fĂŒr unseren Chretzibach. 

Ein althochdeutscher Personenname Grazzo war jedenfalls hier bei uns, mitten im altromanischen Raum (der gar keine althochdeutsche Sprachepoche gekannt hat), ja zum vorneherein unwahrscheinlich. Auch lĂ€sst sich allgemein fragen, wie plausibel Personennamen in Bachbezeichnungen ĂŒberhaupt seien. Zwar kommen solche Bildungen auch vor: In BĂŒnden findet man (vgl. RN 2, 381) die FĂ€lle Frauabach (Davos), HerabĂ€chli (Arosa), Pfaffenbach (Jenaz), und auch im Werdenberg gab es Namen wie †Bamerenbach Sennwald, †Clemenzenbach Wartau, †Haldners Bach Gams/Sennwald (vgl. WeNB 7, 31). Aber sie sind selten und jedenfalls sprachgeschichtlich auch viel jĂŒnger. 

Und schweizerdeutsch Gretz(e)? Auch hier sind Zweifel angebracht, was die angenommene Wortbedeutung angeht: eine ErklĂ€rung eines Bachnamens Chretzibach/Gretzenbach als ‘Reisigbach, GestrĂŒppbach’ ist unplausibel, leuchtet nicht ein. Nein, es muss noch weitergesucht werden.

Nun kennt schweizerdeutsch Gretze, auch Gritze (fĂŒr ‘Rute, Gerte’, auch kollektiv ‘dĂŒrres Reisig’) eine Nebenform auf K- bzw. Ch-: FĂŒr Luzern ist Kritze(n) in der Bedeutung ‘Fach, Fischreuse’ bezeugt (Idiotikon 3, 937). Hier liegt der SchlĂŒssel zur ErklĂ€rung - die Bedeutung ‘Fischreuse’ muss einem ins Auge springen. Eine Reuse (Ă€lter mundartlich auch «ein Fach») ist ein GerĂ€t zum Fangen von Fischen: ein fassartiger, oft aus Ruten (!) geflochtener BehĂ€lter mit einem oder zwei sich nach innen verengenden Trichtern als Öffnung, der ins Wasser gelegt wurde. Zum Wort Kritze in Luzern wird (im Idiotikon) eine interessante ErlĂ€uterung aus dem Jahr 1471 zitiert: «  soll han vier kritzen, das sind zwifalte [= zweifache] fach». Also waren offenbar das Fach und die Kritze Reusen von unterschiedlichem Bau.

Dass Fischreusen auch im Werdenberg wirklich verwendet wurden, lĂ€sst sich nachlesen im «Werdenberger Jahrbuch» 2006 (Buchs 2005, S. 45-46), wo ich im AufsĂ€tzchen «Der Landvogt in Verlegenheit», eine Episode aus dem Jahr 1569 wiedergebe: Zwei Landstreicher (und ihre «Wyber oder Dirnen») hatten eben im Rhein eine solche Reuse (dort als «Fach» bezeichnet) geplĂŒndert. Dieses «Fach» aber gehörte nun ausgerechnet dem Landvogt von Werdenberg, und so hatte die Sache ein Nachspiel, und sie wurde im Glarner Archiv aktenkundig (wo ich dann auf sie gestossen war).

Ferner ist ohne weiteres anzunehmen, dass auch die Unterscheidung von Fach und Chretze fĂŒr unterschiedliche Arten von Fischreusen bei uns gelebt haben kann, dass also der Ausdruck Chretze auch bei uns vorausgesetzt werden darf. Und dass auch in BergbĂ€chen (wohl seit jeher) Fische gefangen wurden, weiss ich aus Augenzeugenberichten am Grabser Berg.

Damit darf der Name Chretzibach als erklĂ€rt gelten: ‘Bach, in dem Fischreusen ausgelegt wurden’. Zweifellos hĂ€ngt das Wort Chretze f. ‘Reuse, Reusenkorb’ wiederum mit schweizerdeutsch ChrÀÀze f. (sĂŒddeutsch KrĂ€tze) ‘aus Ruten geflochtener RĂŒckentragkorb, Hutte’ zusammen, und beide gehören zu althochdeutsch chrezzo ‘Korb’. Auch deutsch Kratten m. ‘Trag-, Henkelkorb’ ist ein Glied dieser Wortsippe.

Damit sind wir am Schluss angelangt, möchten aber nochmals zum Solothurner Gemeindenamen Gretzenbach zurĂŒckkehren und das Folgende nachtragen:

Das «Lexikon der schweizerischen Gemeindenamen» (LSG) von 2005 bringt (auf Seite 412) zum Namen Gretzenbach nichts Neues: Es ĂŒbernimmt die Deutung ‘Bach des Grazzo’; daneben könne aber auch schweizerdeutsch Gretze ‘GestrĂŒpp’ (‘beim GestrĂŒppbach’) nicht ausgeschlossen werden. Beides dĂŒrfte sich nun freilich erĂŒbrigen.

Der Herausgeber des «Solothurnischen Namenbuches», mein hochgeschÀtzter Kollege Prof. Rolf Max Kully (UniversitÀt Basel), antwortete mir jedenfalls am 15. Dezember 2010 wie folgt, nachdem ich ihn auf meine Auffassung zum Fall hingewiesen hatte: «Ich danke dir, dass du mir das Problem Gretzenbach unterbreitet und zugleich gelöst hast.»

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