«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Falinär

(Buchs)

Der auf der dritten Silbe betonte Name bezeichnet eine Zone auf der Gemeindegrenze zwischen Buchs und Grabs; sein Gebiet gehört also beiden Gemeinden an. Es handelt sich um ein steiles Waldgebiet am Nordhang des obersten Buchser Bergs, hinter dem Bellwitisatz, einen schattigen Hang, der nordwestwärts gegen das Alptal Ivelspus abfällt. Er umfasst die Höhenlage von 1200 bis 1580 m ü. M., wobei das Teilgebiet über 1400 m auf Buchser Boden liegt.

Aus den erst spät erscheinenden urkundlichen Nennungen (1666 Fallerner, 1701 falernär, 1703 Aler Ner, 1720 Vallernär) tritt uns durchwegs eine Sprechform /fallernǟr/ entgegen, ebenso wie auch /allernǟr/. Diese beiden offensichtlich stark verwurzelten Sprechvarianten haben wir noch um 1965 hören können; sie sind wohl bei älteren Einheimischen heute noch bekannt. In diesen Formen hat sich in der Zwischentonsilbe ein (herkunftsmässig nicht begründetes, wie man sagt: sprosshaftes) -r- eingenistet. Die Variante ohne F- erklärt sich zwanglos aus der gängigen Wendung /uf Falernär/, die dann sekundär als /uf Alernär/ aufgefasst wurde. Wie üblich fragen wir uns auch hier zunächst, was für Deutungsvorschläge bisher zum Namen vorgebracht worden sind.

Blick zum Grabser Hausberg, dem Margelchopf, gesehen vom Grabser Kiesfang aus. Steil erhebt sich der unten breite, gegen oben schmal zusammenlaufende Studner Berg über der Talebene. Auf der Südseite wird er flankiert durch den Buchser Berg mit der Alp Imalbun und dem Höhenrücken genannt Tossen. Darunter, am Fuss des schattigen Absturzes das Tal von Ivelspus. Der Waldhang Falinär ist mit einem Kreuz bezeichnet. Bild Werdenberger Namenbuch.

David Heinrich Hilty, sicher auch hier beraten von seinem Münstertaler Freund Thomas Gross, setzte 1890 eine romanische Form *vallunèr m. ‘Tobel, Rise’ an. Dieser Deutung möchten wir nicht beistimmen. Den von rom. val f. ‘Tal’ einfach abgeleiteten Typ valluna vermuten wir zwar hinter dem Namen Luna, der die Hochweide etwa einen Kilometer südwestlich über Falinär bezeichnet, in der breiten, tobelartig abfallenden Einbuchtung etwa in der Mitte zwischen Falinär und Margelchopf. Die romanische Endung -un(a) steht ja für eine begriffliche «Vergrösserung» der im Wortstamm enthaltenen Bedeutung, und so ist am beschriebenen Ort Luna ein valluna f. ‘grosses Tal’ durchaus einleuchtend. Umgekehrt ist aber bei Falinär keinerlei Geländeeinschnitt zu sehen. Daher ist der Ansatz schon sachlich zu bezweifeln, und überdies ist eine doppelte Suffixableitung von rom. val f. ‘Tal’ (lat. *vall-on-ariu) in ganz Graubünden kein einziges Mal zu finden, weder in Ortsnamen noch in der gesprochenen Sprache. Auch würde das zwischentonige -u- nicht zu den Sprechformen Falinär (und Falernär) passen. Der Vorschlag darf daher fallengelassen werden.

Im Jahr 1974 habe ich als Herleitung von Falinär dann einen Typ lat. labin-ariu, rom. lavinér m. ‘Lawinenzug, -hang’ vorgeschlagen. Auch Valentin Vincenz schloss sich 1983 in seiner Bearbeitung der Buchser Flurnamen dieser Ansicht an. Nun könnte man dagegen einwenden, der Hang von Falinär sei ja dicht bewaldet, womit kaum ein Anlass bestünde, hier an Lawinenabgänge zu denken. Dazu lässt sich allgemein sagen, dass die heutigen Verhältnisse in Bezug auf den Waldbewuchs nicht unbedingt mit denen vor tausend Jahren übereinstimmen müssen. Das zeigt sich ähnlich schon im Fall etwa des unweit gelegenen heute geschlossenen Waldgebiets namens Bellwiti, dessen Namensteil -witi ja auch auf eine einstmals grössere Waldlichtung, einen freien Platz im Wald hinweist. Man muss ja keineswegs annehmen, dass der ganze Steilhang Falinär zur Zeit seiner Benennung waldfrei gewesen sein müsse und beweidet worden sei – für die Feststellung eines Lawinenhangs reicht auch ein beschränkteres Teilgebiet. Auch der gleich südwestlich an Falinär anschliessende, ebenso steile und noch nicht ganz eingewachsene Hang namens Schafhag zeigt ja, dass solche Steilhänge durchaus zeitweise beweidet wurden. Und dort waren also auch Schneerutsche möglich. Daraus ergibt sich die sachliche Berechtigung einer Namengebung als ‘Lawinenhang’.

Nochmals der Blick über die Höfe des Studner Bergs auf die in tiefem spätherbstlichem Schatten liegende Nordflanke des oberen Buchser Bergs, wo der Steilhang von Falinär (x) kaum deutlich wahrzunehmen ist. Bild Werdenberger Namenbuch.

Nun ist aber noch ein Punkt zu beachten. Wir müssen uns auch der Frage stellen, wie rtr. lavinér zu alem. *falinǟr hat werden können. Wenn wir die beiden Formen einander gegenüberstellen, sehen wir, dass in ihnen eigentlich nur die zwei Laute l- und -v- ihre Plätze getauscht haben (lav- > val-/fal-). Solche Lautumstellungen kommen unter gewissen Voraussetzungen häufig vor. Man nennt sie in der Fachsprache Metathese: altgriechisch μετάθεσις heisst ‚Umstellung‘ und bezeichnet in der Phonetik/Phonologie genau solche Vertauschungen von Lauten.

Solche kommen in unseren Namen recht häufig vor, vor allem dort, wo sogenannte Liquidlaute («r» und «l») am Vorgang beteiligt sind: Averschnära Grabs (< rom. fraschnèra), Ampa(r)dell Grabs mit den Belegen 1380 pradell, 1463 pardell, Iltios (aus älterem in Tiols). Auch ein Wechsel zwischen -l-d- und -d-l- lässt sich beobachten, etwa beim Namen Soledun (Wartau), der auch als Sudlun auftritt, oder in Puliditsch Gaschurn, urk. 1650 als Budilitsch (zum Wortstamm palud- ‘Ried’). Sie alle zeigen die Vitalität des Vorgangs an sich, lassen sich jedoch mit unserem Fall nicht unmittelbar vergleichen.

Mehr Ähnlichkeit mit unserem Falinär hat folgender Name im Walgau: Eberhard Tiefenthaler erwähnte in seiner Untersuchung Die rätoromanischen Flurnamen von Frastanz und Nenzing (Innsbruck 1968, S. 93f.) eine nur urkundlich um 1500 erwähnte Örtlichkeit Fillinar, die anscheinend beim Weiler Rossnis an der Gemeindegrenze von Nenzing und Frastanz, also unweit über der Talebene südöstlich des Dorfes Frastanz gelegen war. Er sah darin ebenfalls lat. labina ‘Lawine’, hier mit der Endung -ale, und vermutete dieselbe Lautumstellung von altrom. lavinár zu *falinár (> filinar). Natürlich kommt uns dieses Fallbeispiel zur Stützung unseres eigenen Deutungsansatzes bei Falinär sehr gelegen. Dennoch aber müssen wir an der Wahrscheinlichkeit seines Ansatzes zweifeln – nicht so sehr wegen der fraglichen Lautumstellung, als vielmehr angesichts der unweit von Frastanz doch sehr geringen Höhenlage, die schwerlich an einen Lawinenzug denken lässt.

Was dies betrifft, sind im Fall unseres steilen, hochgelegenen Falinär am Buchser Berg die Verhältnisse nun weit günstiger. Dort oben im Steilgebiet über dem Alptal von Ivelspus sind, wie wir gezeigt haben, die Voraussetzungen für die Annahme eines Lawinenhangs durchaus gegeben.

Gerne würden wir noch weitere Parallelfälle aufführen, die unsere Erklärung auch hinsichtlich der vorausgesetzten Lautumstellung von rtr. lavinér zu alem. *falinǟr noch weiter absichern könnten. Solche liessen sich aber leider in der näheren und weiteren Umgebung nicht auftreiben. Daher müssen wir – wie so oft – auch hier die Darstellung abschliessen mit einem kleinen Rest an Unsicherheit, die uns indessen, nachdem sie dargelegt worden ist, kaum den Schlaf rauben kann.

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