Wohl jeder kennt das Dörfchen Gasenzen, das mit seiner Kapelle (dem Chappeli) am Hangfuss nördlich von Gams gelegen ist. In der Gemeinde wird die Siedlung liebevoll s Dörfli genannt. Dieses umfasst die Teilgebiete HĂŒlsch, Usserbach, Oberdorf, Brugg und Erle1. Dem Muttergottesbild im Chappeli werden Wunder nachgesagt; nach der Ăberlieferung soll es vom Grabser Berg stammen und nach der Reformation nach Gasenzen gelangt sein (siehe dazu Werdenberger Jahrbuch 2013, S. 212-214). Zum Namen Gasenzen ist schon viel geschrieben worden. Es handelt sich aber um einen Fall, der noch nicht sicher hat geklĂ€rt werden können, denn vielleicht stammt der weit verbreitete Namentyp aus vorrömischer Zeit. Damit widersetzt er sich bis heute einer sicheren sprachlichen Zuordnung.
ErwĂ€hnt sei zunĂ€chst, dass neben dem heute ĂŒblichen /GasĂ©nze(n)/ Ă€lter (gleich wie etwa bei den Gamser Namen Igadeel oder IgalĂ€tscha) auch eine Ă€ltere Sprechform /im Igasenza, is Igasenza, vo Igasenza/ ĂŒblich war, welche wir in frĂŒheren BeitrĂ€gen hier schon mehrfach angetroffen haben (etwa Nr. 53 Iskafols Gams oder Nr. 66 Igatschier Sennwald). Diese regionale Besonderheit kennen wir daher; sie ist sprachgeschichtlich von hohem Interesse, sagt allerdings noch nichts aus zur Herkunft des jeweiligen Grundnamens.
Gasenzen, "s Dörfli", auf einer Luftaufnahme von Osten her. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.
Ăblicherweise darf man davon ausgehen, dass ein undurchsichtiger Name hauptsĂ€chlich durch das Studium der urkundlichen Nennungen seiner KlĂ€rung nĂ€hergebracht werden kann. Hier, im Fall von Gasenzen, hilft uns die von Valentin Vincenz zusammengetragene Belegliste nicht weiter, denn schon der Erstbeleg von 1462 weist mit gassenzen genau die heutige Form auf â und dabei bleibt es (mit geringeren orthographischen Abweichungen) in den gut zwei Dutzend Nennungen bis 1800. An der Richtigkeit des Vorgehens Ă€ndert sich damit aber nichts â man weiss nun immerhin, dass die Namensform sich in den letzten sechs Jahrhunderten nicht mehr verĂ€ndert hat, dass die wesentlichen Entwicklungsschritte des Namens sich in weit frĂŒheren Zeiten vollzogen haben mĂŒssen. Diese liegen allerdings ganz im Dunkel der Geschichte.
Desto notwendiger ist es nun, dass wir uns nach möglichen oder sicheren ParallelfĂ€llen im gleichen Kulturraum umsehen; vielleicht hilft uns das weiter. Solche FĂ€lle gibt es nun allerdings mehrere. Wir kennen Gasienz Wartau (steile Wiese im Fontnaser Feld, zum Azmooser Riet abfallend); fĂŒr GraubĂŒnden nennt das RĂ€tische Namenbuch (RN 2, 706) Gazienz Malans (GR: Dorfteil, Gasse) und Casenz Untervaz (Dorfbach, wozu die Alp Walcasenz). In Liechtenstein (vgl. Liechtensteiner Namenbuch I/5, 108) finden sich die Verkleinerungsform Garsenzele Balzers (Weidhang auf Gapfahl) und Gasenza Triesen (Bergwiese in der Alp Wang). Und obgleich RN 2, 704 dies nicht sagt, könnte wohl auch GarsĂ©ns in Waltensburg/Vuorz (Weideland) dieser Gruppe (nennen wir sie Gasenz-Gruppe) angeschlossen werden.
Man sieht, dass diese FĂ€lle (fast) alle im relativ engen Raum zwischen Hirschensprung und Chur vorkommen â eine beschrĂ€nkte rĂ€umliche Verteilung, die mit Blick auf die Deutung des Namens allenfalls von Belang sein könnte, allerdings vorlĂ€ufig ungeklĂ€rt bleibt. Fragen wirft auch der Umstand auf, dass beim Vergleich dieser Ărtlichkeiten kein gemeinsames topografisches Element erkennbar ist, das fĂŒr die Namengebung hĂ€tte massgebend sein können: WĂ€hrend es sich in der Mehrzahl der Gebiete um Hanglagen handelt, haben wir es in Gams ja mit offenem Flachland zu tun. Die GelĂ€ndeform scheint also als Benennungskriterium nicht im Vordergrund zu stehen.
Blick vom Gamser Usserberg her auf Gasenzen und die weite Rheinebene. Rechts aussen die Kirche von Gams. Im Hintergrund die Drei Schwestern und das Falknismassiv. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.
Doch wenden wir uns nun der Frage zu, was fĂŒr DeutungsvorschlĂ€ge Ă€ltere Autoren zu diesen FĂ€llen vorgebracht haben. David Heinrich Hilty, unser Werdenberger Namensammler, meinte 1890, GasĂšnza (er fĂŒgt an: «oder richtiger Casensa») könnte eine Verkleinerungsform zu «ca, casa â casetta» sein. Dazu erwĂ€hnt er auch ital. caseggiato âHĂ€usergruppeâ, ohne sich allerdings um die Details dieser fraglos unzulĂ€ssigen Verbindung zu kĂŒmmern. Sein Vorschlag ist denn auch nicht ernstzunehmen.
Theodor Schlatter («St.Gallische romanische Ortsnamen und Verwandtes», Teil 1, S. 13) zerlegt 1903 den Namen Gasenzen in ein romanisches Ca- âHausâ sowie einen lat. Personennamen «wie Crescentius». Das hiesse also, dass hier ein Hausname vorlĂ€ge â so oder Ă€hnlich liesse sich zur Not ein altes Wohngebiet wie in Gams oder Malans GR verstehen. Aber was wĂ€re dann mit den sicherlich nie bewohnten Hanglagen der anderen FĂ€lle? Dort jedenfalls wĂ€re der Ansatz ganz untauglich, und auch bei Gasenzen Gams oder Gazienz Malans scheint er wenig wahrscheinlich, insbesondere dann, wenn man die Gasenz-Gruppe nicht zum vorneherein auseinanderreissen möchte.
Derselbe Schlatter kommt im 2. Teil seiner Abhandlung (1913) nochmals auf seine Deutung zu sprechen, der er offensichtlich auch nicht traute. Diesmal schlĂ€gt er ein «mittellateinisches gadium, gazium âWald, Jung-, Niederwaldâ» vor, das auf die Endung -entia abgeleitet worden wĂ€re und gazientia âJungwĂ€lderâ ergeben hĂ€tte.
Auch hier kann man ihm freilich nicht beistimmen; er bringt da einiges durcheinander. Die mittellateinische Sprache, das (geschriebene) Latein des europĂ€ischen Mittelalters, speiste sich aus den unterschiedlichsten Quellen, aus kirchlichen, klassischen, juridischen Vorbildern, nahm aber auch Anleihen aus den romanischen und germanischen Volkssprachen seiner Autoren auf. In den mittellateinischen WörterbĂŒchern finden sich viele Wortformen, die auch von Namendeutern gerne in Anspruch genommen wurden. Allerdings ist es in seinem Charakter aber hauptsĂ€chlich eine Ă€usserst uneinheitliche literarische Sprachform, welche auf die Entwicklung der Volkssprache, in unserem Fall des ChurwĂ€lschen oder BĂŒndnerromanischen, kaum einwirkte. Gerade das von Schlatter angesetzte gazium (sofern es sich ĂŒberhaupt irgendwo nachweisen lĂ€sst) ist nun ganz dubios, und erst recht ist es das kĂŒnstlich hinzugedichtete gazientia. Auch mit seinem gadium ist hier nichts auszurichten.
Der BĂŒndner Namenforscher Andrea Schorta, Autor des RĂ€tischen Namenbuches (1964), hat als erster die weiter oben aufgezĂ€hlte Gasenz-Gruppe als Ganzes ins Auge gefasst. Er bezeichnete diese als «zweifellos vorrömisch», und zwar unter Verweis auf den «Flussnamen des verbreiteten Typus *cosantia». Damit bezog er sich auf eine zu seiner Zeit viel diskutierte Schicht sogenannter «alteuropĂ€ischer Flussnamen», ein Netzwerk von GewĂ€ssernamen in Mittel- und Westeuropa (vom Baltikum und Skandinavien bis nach Italien und zu der Iberischen Halbinsel), die unter sich gemeinsame Elemente aufwies und nach dem deutschen Sprachwissenschafter Hans Krahe (1898-1965) aus einer vorgeschichtlichen indogermanischen Sprache stammen sollten, welche noch vor der Verbreitung der germanischen und keltischen Sprachen in Europa gesprochen worden wĂ€re. Eine besondere Rolle wies Krahe hierbei namentlich der ausgestorbenen illyrischen Sprache (im Westen der Balkanhalbinsel) zu. Diese Theorie wird bis heute kontrovers diskutiert, gilt allerdings in dieser Form als ĂŒberholt, wie ĂŒberhaupt die sprachlichen Gegebenheiten des prĂ€historischen Europas weiterhin grundlegend umstritten sind.
Entsprechend kritisch ist heute daher auch Schortas AnknĂŒpfungsversuch zu bewerten â zumal unsere hiesige Gasenz-Gruppe ohnehin keinen Zusammenhang mit einem alteuropĂ€ischen GewĂ€ssernamentyp erkennen lĂ€sst.
WĂ€hrend noch Gerold Hilty (1980) den Dorfnamen Gasenzen in diesen Zusammenhang gestellt hatte (unter Bezugnahme auf den Gasenzenbach als primĂ€res Benennungsobjekt), lehnte Valentin Vincenz (1992) den Ansatz ab: Es erschien ihm zu Recht unwahrscheinlich, dass hier in einem lokalen Wasserlauf (dem Gasenzenbach) ein alteuropĂ€ischer Flussname weiterleben sollte, wĂ€hrend sonst alle vergleichbaren BĂ€che der Umgebung (Simmi, â RĂ€ppa, Felsbach, Gadölbach, ZĂŒelbach) viel jĂŒngere (nĂ€mlich deutsche und romanische) Namen trugen. Auch wĂ€re die nachfolgende Ăbertragung des hypothetischen Bachnamens auf die Dorfsiedlung ein Schritt, der seinerseits noch nĂ€herer BegrĂŒndung bedurft hĂ€tte.
Die 1821 erbaute Kapelle ("s Chappeli") in Gasenzen. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.
Vincenz schlug daher fĂŒr Gasenzen eine lateinische Grundform clus-entiu vor, wobei lat. clusum als âSchafpferchâ oder âeingehegte Schafweideâ verstanden werden kann. Dies wĂŒrde in der Tat gut zu den Namen Gams und Gamschol passen, die beide die Grundbedeutung âSchafweideâ aufweisen. Und diese auf die Bodennutzung bezogene ErklĂ€rung könnte wohl auch fĂŒr die ĂŒbrigen FĂ€lle der Gasenz-Gruppe befriedigen. Aber als sicher lĂ€sst sich auch dieser Ansatz nicht vermitteln; so ist etwa auffĂ€llig, dass in keinem der Namen auch nur eine Spur der von Vincenz angesetzten alten Konsonantengruppe cl- (etwa als *Glasenz) zu finden ist.
So ist auch weiterhin nicht von der Hand zu weisen, dass hier ein unbekannter, allenfalls vorlateinischer (vorrömischer) Worttyp vorliegen könnte.  Es ist ja bekannt, dass im uralten Siedlungsraum ChurrĂ€tien (zu dem auch das St.Galler Oberland, Liechtenstein und SĂŒdvorarlberg gehörten) eine grosse Zahl von Dorfnamen sich weder aus dem Deutschen noch aus dem Romanischen erklĂ€ren lassen, sondern dass sie teils weit in vorchristliche Zeiten zurĂŒckreichen, zu deren sprachlichen VerhĂ€ltnissen wir nur wenige verlĂ€ssliche Informationen besitzen. So wollen wir uns im vorliegenden Zusammenhang auch nicht weiter vorwagen.
Der Gasenzler Dorfplatz mit dem mÀchtigen Brunnen. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.
Das Etikett «vorrömisch» ĂŒbrigens, mit dem man sich oft zufriedengeben muss, ist ja zunĂ€chst bloss eine negative Vorsortierung einer Namensherkunft (nĂ€mlich gleich: «nicht deutsch», «nicht lateinisch bzw. nicht romanisch/italienisch»): eine pauschale Zuordnung, die noch nichts darĂŒber aussagt, welcher Sprachtyp tatsĂ€chlich in einem fraglichen Fall vorliegt. Wenn man weiss, dass wohl die Mehrzahl der heutigen Dorfsiedlungen (und viele von deren Namen) zur Zeit der römischen Eroberung RĂ€tiens bereits vorhanden waren, und wenn man bedenkt, dass im RĂ€tischen Namenbuch fĂŒr ganz GraubĂŒnden mit seinen rund 25'000 verschiedenen Ortsbezeichnungen allein deren rund 4â550 (worunter zahlreiche Siedlungsnamen) als «Namen fraglicher Herkunft» aufgefĂŒhrt sind â dann kann man sich eine Vorstellung machen von der Bedeutung, dem Gewicht dieser frĂŒhen und entsprechend dunklen Schichten, die noch als unerklĂ€rt auf ihre Erhellung warten. Auch wenn durchaus nicht alles, was uns unverstĂ€ndlich erscheint, auch notwendigerweise «vorrömisch» sein muss ...
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