«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Igatschier

(Sennwald)

Wohl die wenigsten Leser werden auf Anhieb sagen können, wo sich die Örtlichkeit dieses Namens befindet (dieser wird jünger auch ausgesprochen als Igatschía, also ohne das Schluss-r). Der Ort liegt im Bergwald weit oben am Saxer Berg, als oben steile, unten flacher auslaufende Lichtung auf etwa 920-1050 m ü. M., am Alpweg, der etwas weiter westwärts im Zickzack (über die Chobelrengg) zur Underalp ansteigt. Die Blösse Igatschier samt dem sie umgebenden Bergwald befindet sich zwischen den beiden waldlosen Steilhängen Underem Chobel (auch Saxer Schissi genannt) und Gufere1. Sie schliesst unten an den Hagchengel an, bildet dessen Auslaufgebiet. Dieser letztere, eine steile Geländerunse, wird im Nachwinter zum Lawinenzug; dort kommt die sogenannte Aggerläui vom Fuss der Chrüzberge herab, fährt durch die Saxer Underalp, donnert durch das Öfeliloch und den schmalen Hagchengel herunter und ergiesst sich in das steinige Gebiet Igatschier.

Der Name Igatschier hat schon eine Reihe von Deutungsversuchen erfahren. Der Frümsner Lehrer Adolf Schäpper wollte ihn um 1930 mit einem mittellateinischen gazium ‘Niederwald’ verbinden, das in Wirklichkeit aber im Romanischen gar nicht weiterlebt. Ich selber habe dann 1976, als ich den Namen in anderem Zusammenhang flüchtig streifte, an eine Zusammensetzung altromanisch *cant aschier ‘Ahornegg’ gedacht. Auch Valentin Vincenz wollte 1992  (in seinem Buch zu den romanischen Namen von Gams bis zum Hirschensprung) diese Herleitung zulassen. Diese kann allerdings nicht als sehr wahrscheinlich gelten. Ganz auszuschliessen ist der Gedanke von Vincenz, Igatschier mit dem surselvischen Personennamen Gieri ‘Georg’ verbinden zu wollen. Nach allem, was wir wissen, ist diese Form (mit ihrem -ie-) nicht vom Vorderrhein bis zu uns herunter gelangt – man vergleiche den Namen Mumpertjöris (Wartau), das auf munt Sant Jöri ‘Sankt Georgs Berg’ beruht und für unsere Gegend also eine altromanische Form des Typs Jöri vorgibt.

Die Flugaufnahme zeigt die mächtige Flanke der südlichen Alpsteinkette hoch über dem Rheintal: Oben links ein Teil der Chrüzberg-Kette, rechts daneben die Saxerlugge und unter dieser die Alpgebäude der Saxer Underalp. Links unter der Hütte die steile Geländerunse namens Hagchengel, über den die Aggerläui in das Gebiet Igatschier (rotes Kreuz) niederfährt. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.

Ein weiterer Ansatz, den Valentin Vincenz zögernd vorbringt, hat nun weit mehr Wahrscheinlichkeit – ja, mit Blick auf die örtlichen Verhältnisse ist er auf Anhieb plausibel und kann hier eigentlich kaum in Zweifel gezogen werden. Es handelt sich um eine Ableitung zum lat. Verb congerere tr. ‘zusammentragen, -werfen, aufhäufen’, nämlich lat. congeries f. ‘Haufen Holz, Holzstoss’, überhaupt ‘eine Menge auf einem Platz zusammengetragener und ohne Ordnung übereinandergeworfener Dinge’. Das daraus hervorgegangene romanische Wort ist heute zwar nicht mehr gebräuchlich; es muss aber in der altromanischen Epoche gelebt haben, denn es ist in mehreren Ortsnamen zweifelsfrei erkennbar, man vergleiche: Cunschieras (Pignia), Gundschieras (Bergün), Contscheras (Tschlin), Gundscheras (Zernez), Ganschiersch (Klosters und Saas), Ganschier (Luzein), Canschier (Schiers), Ganschiersch (Seewis). In Südvorarlberg tritt derselbe Typ auch auf als Gaschier (Bürs), Gaschiera (Bürserberg), urk. 1542 Gundtschieren (Bartholomäberg), Gaschier (Frastanz/Nenzing, urk. um 1500 Cunschier).

Hier schliesst sich unser Igatschier problemlos an, auch was die formale Entwicklung angeht. Das I- am Anfang ist die mit dem Namen verbundene deutsche Präposition in: Die in der täglichen Rede naturgemäss häufige Wendung in Gatschier wurde zu Igatschier vereinigt; zu dieser im Werdenberg wohlbekannten Erscheinung, deutsch in oder an mit dem romanischen Namen zu verknüpfen, haben wir uns hier schon öfters geäussert (siehe im Archiv zur Rubrik «Name des Monats» die Nummern 12 Amasis, 18 Inggeriäls, 19 Afasteig, 24 Impelwiza, 30 Anggalrina, 36 Hinrigmäl, 40 Amatnez, 42 Amaschnun, 46 Amasora, 55 Iskafols). Deren Hintergründe können auf dieser Webseite nachgelesen werden können (unter: https://www.werdenberger-namenbuch.ch/werdenberg/sprache/vom-romanischen-zum-deutschen/deutsche-ortspraeposition-verbunden-mit-romanischen-namen/).

Hier der einschlägige Ausschnitt aus der Flurnamenkarte der Gemeinde Sennwald. Werdenberger Namenbuch.

Auch sachlich passt die Bezeichnung ausgezeichnet, wenn man an das Wirken der Lawine denkt, die hier seit je regelmässig nicht nur Lawinenschnee, sondern auch mitgerissenen Schutt, Baumstämme und andere Trümmer haufenweise hinterlassen hat. Diesen übereinandergeworfenen Hinterlassenschaften begegneten die Saxer Bauern schon vor über tausend Jahren, als sie noch romanisch sprachen, wenn sie zur Underalp hochstiegen. Der Name Igatschier lässt uns daher einen kleinen Einblick tun in eine Berglandschaft, wo das Walten der Natur schon damals sich nicht anders zeigte, als dies heute noch alltäglich ist.

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