«Moorn gummer denn is Riet!» So sprach unsere Mutter. Es war in den 1950er Jahren. Wir wohnten am Grabser Berg, am First, und weit unten im Grabser Riet, im Gebiet InggeriĂ€ls, hatten wir einen grossen Acker. Dieser musste bestellt werden: Saatkartoffeln stecken, spĂ€ter die Zeilen falgen und hĂ€ufeln, dann ernten. Der Vater war als Schreiner weniger abkömmlich fĂŒr die Feldarbeit. Diese war daher vor allem Sache unserer Mutter, und wir Kinder hatten selbstverstĂ€ndlich mit anzupacken. Da man damals noch kein Auto hatte, mussten wir mit dem HandwĂ€gelchen die rund vier Kilometer von daheim bis nach InggeriĂ€ls hinab zu Fuss zurĂŒcklegen. Das war bei uns Kindern recht unbeliebt, vor allem, weil das ratternde GefĂ€hrt mit seinen eisenbereiften HolzrĂ€dern einen ziemlichen LĂ€rm machte, was uns auf dem langen Weg durch das Dorf recht peinlich erschien â obgleich solche Fahrten damals noch allgegenwĂ€rtig waren. Zur Erntezeit im Herbst kam dann Mutters Ă€ltester Bruder, der Vetter Ueli, mit Ross und Pflug mit ins Riet, um die wertvollen Knollen hervorzupflĂŒgen. Dann hiess es emsig Kartoffeln aus der Erde klauben, auflesen und in SĂ€cke abfĂŒllen. Ein kleiner Imbiss unter dem grossen Kirschbaum gehörte auch dazu. Gegen Abend dann zog Diana, das geduldige Ross von Vetter Ueli, die gewichtige Ladung hinauf an den First, wo die «Herpfel» als wichtige Nahrungsgrundlage den Weg in den Keller fanden.
Das Gebiet InggeriĂ€ls östlich des Dorfes Grabs im Dreieck zwischen Grabser Bach und Werdenstrasse umfasst einen bedeutenden Teil des Grabser Riets. Es enthĂ€lt Wiesen und Ăcker, stösst nordwĂ€rts an das Witiriet, sĂŒdlich an das Gebiet WĂ€sserten, gegen Osten an das Ochsensand. Der Name InggeriĂ€ls hatte fĂŒr mich stets einen besonderen Klang. NatĂŒrlich schon wegen der erwĂ€hnten persönlichen Erinnerung. Aber auch seine markante Lautgestalt erschien mir, seit ich mich erinnern kann, als besonders wunderlich â fremd und vertraut zugleich. Was mochte in ihm stecken? Gehen wir also der Frage nach.
Urkundlich erscheint der Name sehr spĂ€t, erstmals 1684, in einem Steuerurbar der Grabser Steuergenossen (also der alten Steurerkorporation), wo es heisst: «Riet in geriĂ€lss». Im Urbar 1691, S. 31, heisst es: «⊠hinuff in ein gsetzte March so stath oben in GariĂ€lĂ». 1752 folgt «JngeriĂ€ls», 1778 «JngreĂ€ls». Und allein im Jahr 1801 treffen wir eine Reihe von Schreibformen an, die tastend versuchen, der sperrigen Lautung am nĂ€chsten zu kommen: «IngreĂ€lss», «GreĂ€lss», «GrĂ€els», «Greels», «IngrĂ€lss», «GrÀÀlls», «Ingerials». Man beachte also, dass es keineswegs so viele unterschiedliche Aussprachen gab: Es sind bloss Versuche, den Namen «richtig» zu schreiben. Ausgesprochen wird er sicher schon seit Jahrhunderten gleich wie heute.
Grabs und das Grabser Riet vom obersten Buchser Berg her gesehen. InggeriĂ€ls liegt sĂŒdlich vom Grabser Bach. - Bild: Hans Jakob Reich.
Wir machen uns an die Analyse des Falles. Als erstes muss die Namensform aufgegliedert werden: a) in den alten, sicher nicht-deutschen Namenstamm «GeriÀls» und b) die davorgesetzte deutsche OrtsprÀposition «in», die sich fest mit dem Namen verbunden hat.
Zum Namenteil In-: Geschichte und Bedeutung dieser eigentĂŒmlichen und sprachgeschichtlich bedeutsamen Verschmelzung kann auf dieser Website nachgelesen werden (unter https://www.werdenberger-namenbuch.ch/werdenberg/sprache/vom-romanischen-zum-deutschen/deutsche-ortspraeposition-verbunden-mit-romanischen-namen/); hier soll sie uns nicht weiter aufhalten.
Wir haben es offensichtlich mit einem romanischen Namen zu tun, der zur Zeit des Sprachwechsels etwa «gerjĂ€ls» gelautet hatte. Dass dabei â in deutschem Mund â der Vortonsilbe ger- offensichtlich wenig Gewicht zukam, bezeugen gerade die Schreibungen des Typs «GreĂ€ls, IngreĂ€ls», wo der vortonige Vokal ausgelassen wird (ger- > gr-). Das heisst aber nicht unbedingt, dass es auch zu romanischer Zeit so war - wie unten gezeigt werden soll.
Unser einheimischer Namendeuter David Heinrich Hilty sah es anders: Er ging (1890) tatsĂ€chlich von ursprĂŒnglichem gr- aus, wollte den Namen mit «romanisch grella, sprella (eine Riedpflanze mit rundem und dĂŒnnem Rohr)» verbinden. Der Versuch schlug fehl, denn wĂ€hrend zwar engadinisch sprella (surselvisch spuriala) fĂŒr den âSchachtelhalmâ wohlbekannt ist, bleibt Hiltys Form *grella rĂ€tselhaft, lĂ€sst sich nirgends auffinden und kann daher nicht verwendet werden.
In meiner Dissertation zu den romanischen Namen von Grabs (1974) gelange ich bei InggeriÀls (S. 154ff.) zu drei lautlich möglichen ErklÀrungsansÀtzen:
LĂ€sst sich nun ein Entscheid zwischen diesen AnsĂ€tzen fĂ€llen? Ja, dazu gibt es einen guten Grund - die eingangs erwĂ€hnte Ortsbeschreibung nĂ€mlich, wonach das Gebiet am SĂŒdrand von InggeriĂ€ls WĂ€sserten heisst â nĂ€mlich in den WĂ€sser(e)n âim wasserreichen Gebietâ. Das ist ja in der Sache nichts anderes als gurgaglia âOrt mit Quellaufstössenâ! Der Entscheid ist damit gefallen. Das Nebeneinander der beiden Namen ist nicht zufĂ€llig. Man weiss ja, dass vor rund 800 Jahren das Romanische und das Deutsche hierzulande nebeneinander gesprochen wurden. Die Bedeutung des alten Namens InggeriĂ€ls bzw. damals *Gurgaglias wurde also noch verstanden â und so wurde er auch ins Deutsche ĂŒbertragen: in den WĂ€sseren.
Solche NamensĂŒbersetzungen sind gar nicht selten. Viele unserer heutigen deutschen Ortsnamen werden schon vor dem Sprachwechsel einen romanischen "DoppelgĂ€nger" mit gleicher Bedeutung gehabt haben und sind dann durch Ăbersetzung in die neue Landessprache ĂŒbertragen worden. Wenn dann die romanische Form in Vergessenheit geriet, dann sehen wir nur noch das Ăbersetzungsprodukt, und der Vorgang hinterlĂ€sst keine Spur âŠ
Es kommt nun aber auch vor, dass beide Elemente solcher Ăbertragungen sich erhalten haben und bis heute friedlich und meist unerkannt nebeneinander liegen â meist so, dass der romanische Name und sein deutscher Gespan sich in ihrem Ortsbezug etwas voneinander entfernt haben. Dies ist in unserem Fall schön zu beobachten: InggeriĂ€ls liegt nördlich bei WĂ€sserten, bzw. WĂ€sserten ist ein kleiner Teilbereich am Rande von InggeriĂ€ls.Â
Hier seien einige weitere entsprechende Namenpaare aus der Umgebung angefĂŒhrt (die zugehörigen ErlĂ€uterungen finden sich in den gedruckten NamenbĂŒchern): â Arlunga â Langenagger (Wartau), Tantermunt â ZwĂŒschet Bergen (Wartau), Amasora â Oberberg (Sevelen), Gampiun â Langen Agger (Sevelen), â Mansinia â Logner (Sevelen), ImalschĂŒel â Fulfirst (Sevelen), Figgoltreien â Warmtobel (Grabs), Baritsch â Rohr (Sennwald). In all diesen FĂ€llen ist der sprachlich-sachliche Hintergrund beider Glieder des Paares derselbe, und es liegt auf der Hand, dass sie jeweils durch Ăbersetzung von der Ă€lteren in die jĂŒngere Sprache weitergegeben worden sind.
Der Name InggeriĂ€ls steht als sprachliche Bildung in ChurrĂ€tien nicht ganz allein da. Im Montafon, in der Gemeinde St.Gallenkirch, findet sich als höchste Siedlung des Tales (1425 m) das Dorf namens Gargellen. Sein Name, urkundlich 1423 Gariella, entspricht dem Grabser Namen genau, ausgenommen das dort fehlende In- und das Mehrzahl-s.Â
Einer Frage mĂŒssen wir uns zum Schluss noch kurz zuwenden: Wie erklĂ€rt sich der Bezug auf das Vorkommen von Wasser im Gebiet InggeriĂ€ls/WĂ€sserten, das heute ja sowenig feucht ist wie seine Umgebung? Dazu mĂŒssen wir zurĂŒckblenden: Um 1900 geschahen in der hiesigen Rheinebene tiefgreifende Umgestaltungen einer bis dahin im Naturzustand verbliebenen Zone. Der Grabser Bach wurde kanalisiert und in den neu erstellten Binnenkanal eingeleitet, und das ganze Grabser Riet wurde melioriert, d. h. entwĂ€ssert. Mit der Tieferlegung des Bachbettes und der Anlage von EntwĂ€sserungsgrĂ€ben legte man das Land trocken und machte das unkultivierte Riedgebiet zu Acker- und Wiesland. Dadurch aber verĂ€nderte sich die Grund- und Hangwassersituation grundlegend; zahlreiche lokale Wasseraufstösse und Sumpfstellen wurden abgeleitet und verschwanden. Nur ein markanter Wasseraufstoss in der nĂ€heren Umgebung von InggeriĂ€ls ist bis heute geblieben: die BuzifĂ€ri, eine krĂ€ftige Quelle im Studner Riet, heute als Biotop eingezĂ€unt und gepflegt. Auch der Name Funtenerla fĂŒr ein Gut ganz in der NĂ€he (er stammt aus altromanisch funtanella âkleine Quelle, BrĂŒnnleinâ) zeugt noch von den alten hydrologischen VerhĂ€ltnissen.
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