«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Lungalid

(Gams)

So hiess ein Wohngebiet und ehemaliges Wiesland, in erhöhter Lage am nordwestlichen Dorfrand von Gams gelegen. Das ĂŒber dem Höfli leicht ansteigende GelĂ€nde grenzt sĂŒdwestwĂ€rts an das Gebiet Vorburg, nach hinten (nordostwĂ€rts) an die Liegenschaft und Überbauung namens Steg1. Gegen oben berĂŒhrt es das allmĂ€hlich steiler werdende Gut namens Afagrist. Heute wird unter Lungalid noch ein Quartierstrassenname verstanden, nĂ€mlich die obere Querverbindung zwischen den nach oben aufeinander zulaufenden Quartierstrassen Oberfelsbachstrasse und Schleipfweg.

Die einzige uns zur VerfĂŒgung stehende urkundliche Nennung des Namens Lungalid ist verhĂ€ltnismĂ€ssig jung: Im «Capitalbuch der FrĂŒhmesspfrund» von 1763, einem Buch von 53 Seiten im Archiv der Ortsgemeinde Gams, erscheint auf Seite 29 der Eintrag «Runckenlid», und dieser gehört zweifellos hierher. Woran man sonst vielleicht nicht einmal gedacht hĂ€tte, das tritt damit in den Bereich des Möglichen: dass nĂ€mlich Lungalid Ă€lter offenbar Rung(g)alid lautete. Damit stellt sich die Sachlage, was die sprachliche Herleitung des Namens betrifft, ziemlich neu dar.

In Noldi Kesslers schönem Buch «Gams – ein kurzer Gang durch eine lange Geschichte» von 1985 lĂ€sst der Autor auch einige Beispiele von romanischen Gamser Flurnamen kurz Revue passieren; auf S. 22 erscheint dort auch der hier behandelte Name (denn romanisch ist er ganz gewiss). Die Deutungen zu der Namenauswahl lieferte Valentin Vincenz, der in jenen Jahren die Sammlung der Gamser Namen im GelĂ€nde und in den Archiven durchgefĂŒhrt hatte. Lungalid stellte Vincenz zu lat. runcu ‘Rodung’, abgeleitet auf eine zweistufige lateinische Endung -ul-etu. In seinem damals in Arbeit befindlichen und 1992 erschienenen Buch «Die romanischen Orts- und Flurnamen von Gams bis zum Hirschensprung» wurde (auf S. 45) das Namensproblem wieder – und im wesentlichen gleich wie 1985 – abgehandelt. Nur die Endung -etu wird dort richtigerweise zu -eta berichtigt; denn -etu hĂ€tte sich im Romanischen ganz anders verhalten, wie ich schon in meiner Dissertation «Die romanischen Orts- und Flurnamen von Grabs» (ZĂŒrich 1974, 2. Aufl. St.Gallen 1981, S. 272-274) gezeigt hatte. 

Blick auf Gams aus der Luft. Lungalid liegt rechts der Bildmitte (gelbes Kreuz). Bild: Hans Jakob Reich, Salez.

Im «Werdenberger Namenbuch» (Band 5, S. 147) schliesslich wird diese Deutung bestĂ€tigt und nochmals um einige stĂŒtzende Beispiele ergĂ€nzt. Die ErklĂ€rung ist demnach die folgende:

Der Name Lungalid setzt ein altrĂ€toromanisches *Runcaleida fort, eine Verbindung von romanisch runcal m. ‘Reute, Rodungsplatz’ mit der lateinischen Endung -ēta (welche dem Wortsinn das Bedeutungselement der HĂ€ufigkeit am betreffenden Ort hinzufĂŒgt). Im Romanischen wurde dieses -eta dann zu -eida. *Runcaleida lĂ€sst sich ĂŒbersetzen mit ‘Ort, wo (mehrere) einzelne RodungsplĂ€tze angelegt wurden’. Der Name entstand also im romanischen (und wohl frĂŒhen) Mittelalter, als auch nahe um den Siedlungskern des entstehenden Dorfes herum noch Wald gerodet werden musste. Ähnliche, auf uralte Rodungen in DorfnĂ€he verweisende Namen lassen sich auch in der Umgebung finden; so etwa in Grabs der Name Runggelfeer (Wiesland in der Talebene zwischen Grabs und Gams, unweit der Simmi und oberhalb der Landstrasse); dieser geht auf romanisch runca veglia ‘alte Reute’ zurĂŒck.

Lungalid steht als Namentyp nicht allein da. Man findet ParallelfĂ€lle zu ihm in GraubĂŒnden, nĂ€mlich urkundlich Rungaleida (16. Jh., Tujetsch), Runcleida in Sevgein, Runcaleida in Ilanz, Luven, Felsberg, Runcaleda in Prez. Dazu kommen zwei Belege aus dem Montafon (Vorarlberg), nĂ€mlich Rungelit in St.Anton und in BartholomĂ€berg.

Zwei wichtige Fragen bleiben nun noch anzusprechen: Wie kam es in Gams zum Übergang von ursprĂŒnglichem Runcaleida zu Lungalid? Also von R- zu L-? Und von -eida zu -id?

Zur ersteren Frage lĂ€sst sich aus dem Liechtensteiner Unterland eine schöne Parallele beibringen, nĂ€mlich im Namen Lunkafeders in Ruggell (siehe Liechtensteiner Namenbuch, Werkteil Ortsnamen, Band 4, Seite 380f.). Dieser geht zurĂŒck auf romanisch runcal veder ‘alte RodungsflĂ€che’ – ist also fast gleicher Herkunft wie das oben gestreifte Runggelfeer in Grabs (fĂŒr ‘alt’ kennt das Romanische neben vegl auch veder). Auch bei Lunkafeders ist das ursprĂŒngliche R- im Anlaut zum artikulatorisch verwandten L- geworden (der Fachmann spricht von Liquidwechsel, den man in Namen und Wörtern gelegentlich beobachten kann).

Und wie konnte das ursprĂŒngliche, echt romanische -eida (im romanischen Sprachgebiet und in dessen unmittelbarer NĂ€he) weiter unten (in den frĂŒh verdeutschten Zonen Werdenberg und SĂŒdvorarlberg) zu ‑id werden? Warum also der Abfall des -a (‑eida > -eid), und warum der Wechsel von -eid zu -id? Hier hat offenkundig frĂŒh das Deutsche seinen Einfluss geltend gemacht. Wir kennen viele Flurnamen wie etwa Grist oder Grof, die Ă€lter auf -a endeten (romanisch cresta, grava): dieses -a ist bei uns (zumal nördlich von Wartau) unter deutschem Einfluss meist geschwunden. Das hĂ€ngt mit dem Zeitpunkt der Eindeutschung zusammen. Wir kennen ja im Deutschen auch lateinische Lehnwörter mit -ē-, die im Deutschen als -Ä«- ankamen; man vergleiche lat. sēta ‘Seide’, das althochdeutsch zu sÄ«da wurde, oder lat. expēnsa > althochdt. spÄ«sa ‘Speise’. Diesem Wechsel unterzogen sich auch romanische Flurnamen, man vergleiche nur die Namen Bleis in Wartau und Plis(en) in Grabs: Beide beruhen auf einem vorrömischen Reliktwort, das altromanisch zu bleis m. ‘grasbewachsener Abhang in den Bergen’ wurde, wĂ€hrend es als plis ins hiesige Alt- oder dann Mittelhochdeutsche einging. Im jĂŒnger verdeutschten Wartau ist die echt romanische Form erhalten geblieben, wĂ€hrend in Grabs sich schon die althochdeutsche Form mit -Ä«- geltend macht. Also steht auch hier, wie im Fall Runcaleida-Lungalid, eine sĂŒdliche «romanische» ‑ei-Form einer nördlichen «deutschen» -Ä«-Form gegenĂŒber.

Blick von IraggĂ€ll her auf die Liegenschaft Steg, dahinter (weiter sĂŒdlich) Lungalid. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.

Lungalid - ein romanischer Rodungsname aus frĂŒher Zeit zwar, aber bereits mit lautlichen EinflĂŒssen seitens des Deutschen, das sich hier eben frĂŒher als in BĂŒnden, frĂŒher auch als in Wartau, durchgesetzt hat. Mit zunehmender Bevölkerungszahl wurde auch in den nachfolgenden Jahrhunderten das Rodungswerk rund um unsere Dörfer und in den ĂŒbrigen Gemeindegebieten planmĂ€ssig fortgesetzt. Diese unermĂŒdliche TĂ€tigkeit unserer VorvĂ€ter lĂ€sst sich in der Landschaft auch an den – spĂ€ter entstandenen – weitverbreiteten deutschen Namen der Typen RĂŒti, Brand oder Schwendi (auch Schwemmi), Schwamm (< *Schwand) ablesen.

Es wĂ€re ein reizvolles Unternehmen, der Geschichte des Siedlungs- und Kulturlandausbaues in unserer Gegend (und anderswo) aufgrund des Flurnamenbildes und in Verbindung mit weiteren landschaftsbezogenen und rechtsgeschichtlichen Indizien einmal grĂŒndlicher nachzugehen. Die vollstĂ€ndig vorhandenen Namensammlungen und -deutungen in der Region Werdenberg, aber auch in Liechtenstein, SĂŒdvorarlberg und GraubĂŒnden böten da jedenfalls als eine mögliche Ausgangsbasis ein reiches Studienfeld.

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