Diesen eigenartigen Namen trägt eine Wieslandfläche in der Talebene östlich von Frümsen, südlich des Weilers Büsmig. Sie liegt direkt am Rand des Schlosswaldes, links neben dem kanalisierten Bachlauf namens Fuchsbrunnen. In der Umgebung finden sich viele Namen, in denen «Mad», «Burst» oder «Riet» enthalten sind. Das lässt schon den Ortsunkundigen darauf schliessen, dass hier, am Rand des Bergsturzgebietes, in älterer Zeit nicht nur Mähwiesen, sondern auch ausgedehnte Flächen mit borstigem Riedgras und feuchte Sumpfwiesen vorherrschten - das typische Bild weiter Teile unserer Talebene in älterer Zeit. Hier also liegt Mordla … Schwingt da nicht ein Hauch von «Mord und Totschlag» mit? Was dachte sich wohl der einsame Fussgänger, der auf dem Weg von Salez zum Büsmig an diesem Ort vorbeischritt, am Waldrand, weitab von menschlichen Siedlungen? Doch ist dieser makabre Eindruck gerechtfertigt? Oder handelt es sich da bloss um einen zufälligen Anklang?
In diesem Fall ist uns das Glück hold. Wie immer in solchen Fällen fragen wir zuerst nach älteren schriftlichen Zeugnissen. Im Helvetischen Kataster von Frümsen (1801) finden wir den Eintrag «Mordlen»: er bringt uns nichts Neues. Interessanter wird es im 16. Jahrhundert, wo uns drei Belege zugänglich sind. Was wir dort lesen, lässt die «Mordgedanken» sogleich verstummen, eröffnet uns aber gleichzeitig eine neue Perspektive. Wir finden nämlich das folgende: Am 17. Februar 1595 verkaufte Amalia von Sax ihren Streuedrittel im besagten Gebiet an Freiherr Johann Philipp: «… an der Streüwj genannt Vermortlen stost zur ersten sydten an das Frümser Riedt … zur anndern sydten an Sanct Golden und an Hanns Roduners guot». Ferner liegt im Archiv der Kirchgemeinde Salez-Haag ein Schatzungsbericht zur Hinterlassenschaft von Ulrich Philipp, Freiherr von Hohensax, ausgestellt im Nov. 1589 und Januar 1590. Darin steht: «Item die Streue in Vermortlen ist angschlagen um 300 Gulden». Und schliesslich öffnen wir noch das Pfandbrief-Urbar von Frümsen (das Einträge von 1457 bis 1707 enthält). Dort ist auf Seite 471 in einem Eintrag von mutmasslich 1539 von einem «gut genant Segolden, stost … an Bolmorten, zur dritten an langen Büll».
Die Sache sieht nun schon ganz anders aus. Nun aber wird der Skeptiker gleich fragen, ob sich denn diese alten Namensformen überhaupt auf unser Mordla beziehen würden. Dies kann man nur bejahen, denn die Ortsumschreibung ist diesbezüglich klar: der Anstoss an das Frümsner Riet wird erwähnt, und auch die Nähe zu «Segolden» (einmal sogar zu «Sanct Golden» gemacht) ist richtig, bezieht sich dieses doch auf die Wiese namens Golsa (älter Sigolsa), die direkt östlich bei Büsmig liegt. Nur den Langen Büel können wir heute nicht mehr zuordnen; der Name ist nicht mehr bekannt. Aber es bleibt dabei: Die urkundlichen Formen Vermortlen und Bolmorten sind mit unserem Mordla identisch – sprachlich und örtlich.
Nun ist dem Namenforscher schon ein grosser Stein vom Herzen gefallen. Denn der «Mordverdacht» scheint sich aufzulösen, und die Aufmerksamkeit richtet sich nun neu auf zwei (zunächst unverdächtige) Elemente, nämlich Ver- (Bol-) sowie -mortlen (oder -morten).
An dieser Stelle meldet sich der Romanist zu Wort: -morten oder -morta, das erinnert doch an das romanische Adjektiv mort, -a ‘tot, gestorben, abgestorben’! Man weiss ja, dass im Romanischen normalerweise das Adjektiv auf das Substantiv folgt – also liegt es auch nahe, im vorausgehenden Ver- oder Bol- den verderbten Rest des ursprünglichen Substantivs zu sehen …
Jetzt geht ein neues Licht auf: Sogleich erinnert sich der Bearbeiter an einen ähnlichen Fall, der ihm in Wartau begegnet ist, nämlich †Palamorta (abgegangener Name für einstiges Ried und Ackerland im Azmooser Feld, zwischen Trübbach und Azmoos).
Blick auf den westlichen Rand des Schlosswalds. Vorne das Herrenmad, über der Strasse am Waldrand Mordla und Herrenstreui1. - Bild: Hans Jakob Reich.
Und jetzt ist alles klar: von den zwei erhaltenen urkundlichen Formen unseres Falles Mordla ist Bolmorten die echtere, denn diese lässt sich direkt mit dem Wartauer †Palamorta vergleichen. In Wartau ist die ursprüngliche romanische Form besser erhalten, weil dort die romanische Sprache bedeutend später verstummt ist als im Raum Frümsen. Darum ist es auch leichter, die Herleitung vom Wartauer Namen aus zu erkennen. Das Rätsel ist gelöst. Hinter diesem Namenpaar steht romanisch palü morta (paliu morta) ‘totes Ried’, also ein Moor, das scheinbar abgestorben ist. Der Name erscheint weiter auch als Palmorta in Flond GR. Solche «toten» Örtlichkeiten trifft man in Graubünden weiter an, siehe: Lai mort Tinizong und Lag miert Rhäzüns (‘toter See’), urkundlich 1427 Pra miert Trimmis (‘tote Wiese’), Terra morta Sent (‘totes Land’), Val mierta Alvaneu (‘totes Tal’).
Im Fall von palü morta liegt noch eine Besonderheit in der Betonung vor: auf das betonte -ü (-iu) von palü (paliu) folgt sogleich das betonte -o- von morta. Im Romanischen geht das leicht; nach der Verdeutschung aber empfand man diese direkte Aufeinanderfolge zweier Tonsilben als artikulatorisch unbequem; daher wurde das palü morta betonungsmässig etwas umgebaut: das -ü trat zurück und landete abgeschwächt als -a- in palamorta (so in Wartau). In Frümsen ging der Umbau noch weiter; das -a- wurde ganz fallengelassen (siehe 1539 Bolmorten: also palmorta). Und auch dieses Bol-, nun vollends zur unbetonten Vorsilbe reduziert, hatte in der Folge keinen Bestand: Die alemannische Sprechweise zieht ja bekanntlich Namen vor, die auf der ersten Silbe betont werden, und da kam es häufig vor, dass romanische Namen auch gewaltsam zurechtgestutzt wurden, bis sie diesem Anspruch gerecht wurden. In unserem Fall hiess dies: in Bolmorten bzw. in der bereits verderbten Folgeform Vermortlen wurde schliesslich die «störende» Vorsilbe Bol-/Ver- ganz abgestossen, und es blieb als Restname unser Mordla!
Lieber Leser: Hätte man die Verbindung von Mordla zu romanisch palü morta herzustellen gewagt, wenn die urkundlichen Formen des 16. Jahrhunderts nicht bekannt geworden wären? Nein, das wäre unmöglich gewesen. Und wäre doch einer (aus dem blauen Himmel) daraufgekommen, man hätte ihn einen Phantasten schelten können … Ich wüsste kein passenderes Beispiel, um darzulegen, wie «lebenswichtig» die gründliche Auswertung der Archive für die Namenforschung ist.
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