Wer auf der Landstrasse südlich von Sevelen gegen Wartau unterwegs ist, kann rechts, unweit über dem Bergfuss, eine langgezogene Hangverebnung sehen, die sich von den südlichsten Häusern von Sevelen bis gegen Plattis hinaufzieht. Es ist eine unauffällige schmale, flache Terrasse nur etwa 15 m über dem Talgrund. Sie liegt unmittelbar unter dem geschlossenen Hangwald, dem Muntjolwald, über welchem sich, von unten nicht einsehbar, das Weidegebiet Gretschinser Holz ausdehnt. Das ist das Namensgebiet Muntjol (gesprochen Muntjoel), und dieses beginnt schon auf Seveler Gebiet, bei der Neuüberbauung südlich vom Giufstein. Weiter südlich, auf Wartauer Boden, trägt die Geländestufe an ihrer breitesten Stelle ein stattliches Gehöft mit behäbigem Wohnhaus und angebauter, langgezogener Stallscheune. Ein schmales Strässchen führt, den Hang schräg schneidend, zu ihm empor. Die Bewohner dieses Hofes trugen in Wartau und Sevelen seit je den Herkunftsnamen «t Muntjöeler».
Der Name Muntjol wurde älter meist geschrieben als Montjol; man hielt das früher für sozusagen hochdeutsch; heute wählt man die Schreibung näher bei der Mundartform. Uns interessiert hier zunächst, wie der Name in früheren Jahrhunderten gelautet haben mag, und ob sich über die Auflistung der urkundlichen Formen eine Stufenleiter zurück zum Namensursprung erkennen lasse. Den ersten einwandfreien Beleg zum Namen finden wir für das Jahr 1489 in der Schreibung Montyol. Diese erteilt uns keinen Aufschluss zur Namensherkunft, gibt sie doch bereits die heutige Aussprache wieder. Etwas ist allerdings schon im voraus erkennbar: der gebrochene Tonvokal -oe- in der Sprechform ist nicht der romanischen Ursprungsform zuzuschreiben, sondern kam erst nach dem Sprachwechsel in Gebrauch: Die für die (deutschen!) Werdenberger Mundarten typische Vokalbrechung von langem Tonvokal -o- zu -óǝ- (etwa in: gróǝs ‘gross’, róǝt ‘rot’) wurde nämlich unterschiedslos auch auf die Namen angewendet, auf deutsche sowieso, aber auch auf romanische; man denke an Frol (= Fróǝl), Gamschol (= Gamschóǝl), beide in Gams, oder Rohr (= Róǝr) in Grabs. Entsprechend verhalten sich auch gelängtes -ö- (Röǝrliweid Grabs) und gelängtes -e- (Chéǝr, Béǝlenbach, beide in Grabs). Der Mundartsprecher der früheren Jahrhunderte pflegte die ihm vertrauten Fremdnamen eben ganz und gar der eigenen Sprechweise anzupassen – da wurde nichts "überflüssiges" Fremdes künstlich beibehalten, sondern alles wurde soweit möglich der eigenen Sprechgewohnheit angeglichen, lautlich angepasst.
Der Hof Muntjol auf schmaler Hangterrasse, vom Talgrund aus gesehen. Bild: Werdenberger Namenbuch.
Doch woher stammt nun Muntjol? Das fragen nicht erst wir uns. Einen Treffer der besonderen Art landete im Jahr 1890 der Geschichtsfreund David Heinrich Hilty (zusammen mit seinem Münstertaler Dienstkollegen und Berater Thomas Gross – wir kennen die beiden schon länger): er wollte den Namen auf italienisch monte olio ‘Ölberg’ zurückführen. Das kommt nun für unser Muntjol freilich nicht in Betracht; der Ansatz liesse sich formal nicht plausibel begründen. Daneben kennt man aber tatsächlich Ölberg als Geländenamen in der deutschen Schweiz: er kommt dort gleich mehrere Dutzend mal vor (man sehe nach unter www.ortsnamen.ch). Wir kennen ihn auch als Alpnamen in Grabs (ein Alpzimmer in der Alp Gamperfin heisst so). Wie er kulturgeschichtlich zu erklären ist, bleibt in vielen Fällen offen. Meistens wird die Bezeichnung biblisch motiviert sein, sei es, dass an den betreffenden Orten einmal ein Bildstock oder eine Kapelle vorhanden war, oder aber, dass von einer (unklaren) figurativen Anknüpfung auszugehen wäre. Doch eben: mit Muntjol hat der Ölberg nichts zu tun.
Eine weitere Idee brachte Jakob Kuratli ins Spiel. Der damals noch junge Wartauer Heimatforscher wollte nämlich (im Werdenberger & Obertoggenburger vom 1. Februar 1924) unter Rückgriff auf sein Schulfranzösisch (!) unser Muntjol als mont joli, also ‘hübsches Berg(gut)’, erklären. Auch dieser eher unbedarfte Vorschlag ist aus sprachgeschichtlicher Sicht natürlich abzuweisen, so überzeugend er auch wenigstens bedeutungsmässig in die Landschaft zu passen schiene.
Blick auf Muntjol. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.
Als nächster äusserte sich Heinrich Gabathuler; er hielt in seinen Orts- und Flurnamen der Gemeinden Wartau und Sevelen (1928 und 1944) den folgenden (der Wirklichkeit schon näher kommenden) Ansatz bereit: «Das ist klares lat. monteolum ‘Kleinberg, Bergli’», bescheidet er bündig. Ganz so klar ist das nun allerdings nicht. Man muss nämlich bedenken, dass von der angesetzten Grundlage (*monteolum) aus gar nicht ein Muntjol entstanden wäre, sondern allenfalls ein *Munzüöl oder ähnlich! Denn die Lautverbindung -tj- (*montjolu) hätte im Romanischen zwingend zu einem -ts- geführt (man vergleiche etwa aus lat. cantione > romanisch chanzun ‘Lied’).
Also sind wir noch nicht ganz am Ziel – aber doch schon in der Nähe des überzeugenden Ansatzes. Sicherlich bleibt der Wortstamm munt m. ‘Berg’ hier im Rennen - er muss allerdings etwas anders verpackt werden. Die fertige Lösung kommt uns dann bereitwillig entgegen, wenn wir das Vorkommen dieses Namentyps auch in Südvorarlberg ins Auge fassen. In Thüringen im Bezirk Bludenz (am Ausgang des Großen Walsertals auf der nördlichen Talseite des Walgau) liegt eine Flur namens Montiola, die schon ab dem 9. Jh. als <Montaniolas> bezeugt ist. Und Montjola in Bartholomäberg (im Montafon) hiess 1306 noch <Montaiola>, 1500 <Montaniola>, 1528 dann <Montiola>. Diese Fälle enthalten den Schlüssel zur Lösung - sie berechtigen uns nämlich, auch für unser Muntjol ein älteres *Muntjola und davor eine volle Lautstufe *Muntaniola vorauszusetzen. Dann erschliesst sich die Erklärung von selber: romanisch muntogna f. ‘Berg’, und dazu eine altromanische Verkleinerungsform muntagnola f. ‘kleine Erhebung, «Bergli»’. Das ist die sprachlich überzeugende Lösung auch für unser Muntjol; und diese Bedeutung passt auch sachlich einwandfrei auf die beschriebene kleine Terrasse am Berghang.
Warum aber kam es zu der – auch in Vorarlberg beobachteten – Wortkürzung? Die Erklärung ist einfach: Muntagnola trägt den Akzent auf der dritten Silbe; dieser gehen zwei vortonige Silben (Mun-tan-) voraus. Diese Vorsilben wurden nun nach dem Sprachwechsel zum Deutschen, zumal bei schnellem Sprechen, zusammengekürzt, zunächst zu *Muntniola, dann zu Muntiol(a). Auf dieser Stufe blieb der Name dann erhalten.
Das Maiensäss im Fuchser ("ds Muntjöelers Fuchser") am obersten südlichen Seveler Berg. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.
Noch etwas sei hier angefügt zum Wartauer Hof Muntjol. Bekanntlich wurden die Bewohner dieses Hofes in Wartau und Sevelen t Muntjöeler genannt. Sie gehören zum alten Werdenberger Geschlecht der Litscher (zu diesem Namen siehe ausführlich im Werdenberger Namenbuch Bd. 7, S. 351). Seit langem besitzt die besagte Familie am vordersten Seveler Berg, am Fuchser, einen Maienberg. Das an wunderbar aussichtsreicher Lage befindliche Berggut wird noch heute ds Muntjöelers Fuchser genannt.
Der weite Blick von ds Muntjöelers Fuchser ins Rheintal gegen Nordosten. Das Dorf Sevelen wird durch den schroffen Hügel Ansa weitgehend verdeckt; links aussen erkennt man die Buchser Burgerau. Jenseits des Rheins (rechts beginnend) Triesen und Triesenberg, dann Vaduz und Schaan; weit hinten der Eschner Berg und die Vorarlberger Höhen. Bild: Werdenberger Namenbuch.
Wer schon dort oben einzukehren das Vergnügen hatte, wird diesen prachtvollen Aussichtspunkt nicht vergessen.
Peter Lippuner, der verdiente, langjährige Präsident (2007-2021) des Vereins Werdenberger Namenbuch, ist mütterlicherseits ein Nachfahre der Muntjöeler Litscher-Familie. Hier sehen wir ihn an ds Muntjöelers Fuchser, seinem Rückzugsort, als Gastgeber in Aktion. Bild: Werdenberger Namenbuch.
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