Wo liegt Prapafir? In der Gemeinde Wartau, und dort gleich zweifach: Einmal als ein grösseres Stück einstigen Wieslandes im flach ansteigenden Gebiet zwischen den heute praktisch zusammengebauten Dörfern Trübbach und Azmoos, über der Verbindungsstrasse, im Azmooser Feld (über dem Feldwingert und Langagger, unter Gamsabeta). Dann auch als Wiese westlich über Malans, von den obersten Häusern des Dörfchens an ziemlich steil ansteigend. Und noch ein weiterer Name in der Gemeinde Wartau ist hier zu nennen, der mit Prapafir sprachlich zusammengehört, nämlich Pafeier, eine kleine Wiese nordwestlich hinter Gretschins, in einem Einschnitt des Grestawäldlis, das sich längs dem Gretschinser Riet hinzieht.
Wir befinden uns an allen drei Orten in uraltem Siedlungsland. Namentlich das Dörfchen Malans (sowie auch das gleichnamige stattliche Bündner Dorf) trägt einen besonders alten Namen: dieser weist in vorchristliche, vorlateinische Zeit zurück, bestand also schon vor der römischen Eroberung. Der Name Malans konnte bisher noch nicht gedeutet werden, denn die sprachlichen Verhältnisse jener Epoche sind nur ungenügend bekannt.
Anders verhält es sich bei den Namen Prapafir und Pafeier: Sie sind sicher romanisch, also lateinischen Ursprungs. Und romanisch (oder churwälsch) sprachen die Vorfahren der heutigen Wartauer während weit mehr als einem Jahrtausend, bis ins Hochmittelalter. Betrachten wir also diese Namen etwas näher.
Die korrekte Aussprache von Prapafir war stets /prapafiir/, auch /praprfiir/; Pafeier wird /pafäier/ ausgesprochen. Im 19. Jahrhundert bürgerte sich dann bei ersterem die Schreibung mit hochdeutschem -ie- als Dehnungszeichen für das lange -i- ein. Dies wäre besser unterblieben, hatte es doch zur Folge, dass Auswärtige und mittlerweile auch die jüngeren Einheimischen die Sprechform nun zu Prapafier (mit gesprochenem Zwielaut -ie-!) verfälschten (gleichsam als ginge es um die Zahl vier, mit welcher der Name natürlich nichts zu tun hat). Der Fall zeigt, dass die Wahl einer Schreibform gut überlegt sein will, damit nicht fragliche Schreibungen zu falscher Aussprache verleiten. Denn im Unterschied zur älteren Zeit sind die meisten Leute heutzutage weder mundartlich noch in der Kenntnis der einheimischen Ortsnamen mehr sattelfest.
Woher stammen Pafeier und Prapafir sprachlich? Was bedeuten sie? Die Namen sind nach dem Sprachwechsel zum Deutschen lange ungedeutet bzw. missverstanden geblieben. Der Seveler Arzt Heinrich Gabathuler befasste sich 1928 und 1944 in zwei Büchlein eingehend mit der Wartauer Namenlandschaft. Er sah in Prapafir ein lateinisches *pratum pabarium, was er mit ‘Futterwiese’ übersetzte, und für Pafeier setzte er ebenfalls dieses *pabarium an. Dass die Silbe Pra- auf romanisch pra(u) ‘Wiese’ beruht, ist richtig. Die – lange unwidersprochene – Erklärung des anderen Wortteils, -pafir, dagegen muss zurückgewiesen werden; denn sie scheitert am Umstand, dass es ein *pabarium gar nicht gab - der Autor hatte es bloss aus lateinisch pabulum ‘Futter’ eigenmächtig zurechtgebogen …
Blick auf Trübbach und Azmoos. Prapafir liegt links der Bildmitte im überbauten Gebiet.
Mittlerweile ist die wirkliche Herkunft des Namentyps erkannt worden. In Prapafir steckt alträtoromanisch pra(u) (d’) preveir ‘Pfarrers Wiese, Pfarrbünt’. Auch im Fall von Pafeier (wo nur das Element ‘Pfarrer’ erhalten blieb) muss einst noch ein Grundwort (‘Wiese’, ‘Acker’, ‘Gut’ oder ähnlich) vorhanden gewesen sein; dieses ist aber mittlerweile verlorengegangen.
Namen, die auf Geistliche Bezug nehmen, waren in älterer Zeit häufig: Wir finden im Werdenberg verbreitet Namenzusammensetzungen wie Pfarrersbüel, Pfarrgarten, Pfarrgass, Pfarrgut, Pfarrerswald, ebenso Pfaffenacker, Pfaffenbongert, Pfaffenfeld, Pfaffenfurt, Pfaffengut, Pfaffenried. Das Wort Pfaff für ‘Pfarrer’ (aus althochdeutsch phaffo, dieses über gotisch papa aus dem griechischen papás) hatte übrigens vor der Reformation noch durchaus nicht den heutigen abschätzigen Beigeschmack.
Doch kehren wir zurück zu altromanisch preveir ‘Pfarrer’: Das Wort ist im Romanischen heute ganz unbekannt; heute heisst es auf romanisch preir oder prer. Das Wortpaar preir–preveir lässt indes schon einen Zusammenhang erahnen – aber welchen? Ein näherer Blick auf die Herkunftsgeschichte hilft hier weiter und enthüllt noch manches andere.
Kirchenlateinisch presbyter ‘Ältester, Priester’ stammt aus dem Griechischen und hat sich in den romanischen (und anderen) Sprachen durch die Bildung von Nebenstämmen stark verzweigt. Unmittelbar auf presbyter beruhen französisch prêtre, älter prestre (woraus deutsch und niederländisch priester und englisch priest) sowie katalanisch, spanisch und portugiesisch preste. Weitere Reflexe in den romanischen Sprachen gehen auf eine Variante *prebiter zurück: rumänisch preot, italienisch prete, albanisch prift. Daneben hatte sich eine Kurzform *pretre gebildet, auf welche galloromanisch preire und bündnerromanisch pre(i)r beruhen. Nun gesellte sich im Lateinischen mit seinem Deklinationssystem aber neben die Nominativform prebiter eine Akkusativform *prebit’rum. Diese lebt weiter im ganzen galloromanischen Raum als proveire, provoire, altprovenzalisch preveire, katalanisch prevere. Hier ist nun auch unsere alträtoromanische Form preveir anzuschliessen.
Nun, da die Formen preir–preveir materiell hergeleitet sind, müssen wir uns natürlich fragen, wie sich diese beiden Formen zueinander verhalten und warum die eine von ihnen in der gesprochenen Sprache verschwunden ist.Â
Erinnern wir uns hier an die Verhältnisse im klassischen Latein: beim Substantiv gab es da eine Deklination mit fünf Fällen: «der Mensch – des Menschen – dem Menschen – den Menschen», lateinisch homo – hominis – homini – hominem (und dazu noch den sogenannten Ablativ homine). Im Lateinischen wurden diese Fälle durch Endungen unterschieden, während die romanischen Sprachen heute in der Regel das unveränderliche Substantiv mittels Artikel und Präposition deklinieren (etwa französisch: l’homme - de l’homme – à l’homme – l’homme). Das heisst, für die Unterscheidung der grammatischen Fälle wurde in der Frühzeit der romanischen Sprachen die Funktion der sich abschwächenden Endungen durch Präpositionen verdeutlicht, worauf die Flexion mittels Endungen schliesslich als überflüssig ganz aufgegeben wurde.
Es gab nun im Mittelalter eine Zeit, da in mehreren romanischen Sprachen - so etwa im Altfranzösischen und nun auch im Rätoromanischen – von den fünf lateinischen Fallformen beim Substantiv noch deren zwei übriggeblieben waren: die Nominativform und eine aus den übrigen Fällen verschmolzene «oblique» Form (sogenannte «Zweikasusflexion»). Dieser Umstand ist nun anlässlich unserer Beschäftigung mit dem Namen Prapafir/Pafeier neu ins Licht gerückt.
Das Wortpaar preir–preveir stellt nämlich auf der morphologisch-syntaktischen Ebene einen weiteren Zeugen dieser Zweikasusflexion im Alträtoromanischen dar, deren vereinzelte Spuren noch in den romanischen Mundarten und nun vor allem auch in versteinerter Form in den Ortsnamen zu finden sind. Dabei ist bekannt, dass beim Abbau der Kasusflexion und dem Übergang zur Deklination mittels Präpositionen in Rätien wie in Frankreich gewöhnlich die Akkusativform («oblique Form») überlebt hat. Eine Ausnahme machen in beiden Sprachen eine Anzahl Personenbezeichnungen, welche sich infolge ihres häufigen Gebrauches als Anredeformen im Nominativ erhalten haben: so etwa romanisch segner ‘Herr (Gott)’ (aus lat. senior – jedoch signur ‘Herr’ aus lat. seniorem). Begünstigt wurde die Bildung von eigentlichen Kurzformen dadurch, dass diese in kirchlichem Gebrauch standen und dort häufig als Titel verwendet wurden; daher ergab lat. senior ‘Herr’ auch das romanische sar, ser und sur als ehrende Titelanrede für Männer (engad. «sar Jachen»), insbesondere in der Surselva für den Pfarrer («ser Darms», «sur Cahannes»). Auch unser pre(i)r lässt sich in diesen Zusammenhang stellen – als Kurzform und gleichzeitig als alte Nominativform gegenüber preveir.
Hätten uns die Wartauer Namenbeispiele nicht auf die ganze Problematik aufmerksam gemacht (vgl. bereits Stricker 1976b), so wären mehrere Ortsnamen in Graubünden und dessen Vorland weiterhin missverstanden oder als nicht erklärbar zurückgestellt worden. So stand noch Andrea Schorta in seinem 1964 erschienenen grossen Rätischen Namenbuch offensichtlich ratlos vor einer Reihe von Bündner Ortsnamen, die sich nun – erst im nachhinein – als preveir-Abkömmlinge erweisen: so etwa Praperfeil Sufers, Praperwil Schiers, Prapafegl Susch, dann Parfils Andeer und Peist, Pruel Lumbrein und Alvaschein. Geradezu missverstanden wurden im erwähnten Pionierwerk Fälle wie Er Parvé Tartar, Prauparvé Sevgein, Run Parvé Andiast, indem dort in offensichtlicher Verlegenheit ein Zusammenhang mit lat. providere (romanisch perver ‘füttern’) gemutmasst wurde. Auch in Unterrätien sind nun noch eine Reihe weiterer preveir-Fälle in der Namenwelt zum Vorschein gekommen: Die Alp Perfiren im Obertoggenburg (Nesslau) (sie war von den Romanen vom Gasterland her benannt worden) etwa gehört hierher. Und ebenso im vorarlbergischen Walgau die lange missverstandenen Namen Balparfil Nenzing und Blabrfil Schlins (beide aus romanisch plan preveir ‘Pfarrersboden’).
Der hier vorgestellte Fall zeigt uns beispielhaft, dass nicht nur die Namenforschung im alträtischen Kulturraum unterhalb der Landquart aus den in Graubünden gewonnenen Erkenntnissen Nutzen zieht. Nein, die Dinge können durchaus auch umgekehrt liegen! Die Erforschung des Bündnerromanischen tut daher ihrerseits gut daran, auch das im längst verdeutschten Unterrätien konservierte Sprachmaterial aufmerksam zu sichten und auszuwerten. Auch dieser Umstand wirft ein Licht auf den wissenschaftlichen Wert der Namenforschung im unterrätischen Raum.
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