«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Sennwald

(Sennwald)

Die nördlichste politische Gemeinde der Region Werdenberg ist ein komplexes Gebilde, reich an landschaftlichen Kontrasten und kleinrĂ€umigen Strukturen. Ihr Territorium reicht von der weiten Rheinebene bis hinauf zur und teils hinter die sĂŒdliche Alpsteinkette mit ihren schroffen, bewaldeten Flanken, und sie umfasst fĂŒnf Ortsgemeinden rund um die Dörfer FrĂŒmsen, Haag, Salez, Sax und Sennwald. Kirchdörfer sind Salez, Sax und Sennwald; 2015 haben sich die Kirchgemeinden Sennwald-(Evangelisch) Lienz, Sax-FrĂŒmsen und Salez-Haag zusammengeschlossen. Weilerartige Siedlungen liegen östlich von FrĂŒmsen (BĂŒsmig), um Salez (Schlossfeld, Gartis) und um Sennwald; Streubesiedlung findet sich verhĂ€ltnismĂ€ssig wenig an den HĂ€ngen ĂŒber Sax und zwischen Sax und FrĂŒmsen. Neue Überbauungen um die Dörfer haben die SiedlungsrĂ€ume bedeutend ausgeweitet und namentlich zwischen Sax und FrĂŒmsen (Hueb, Amalerva, Grista, Stig) zu einer fast durchgehenden Besiedlung gefĂŒhrt. Das Dorf Sennwald (das der Gemeinde den Namen gegeben hat) enthĂ€lt als Ă€ltere grössere Siedlungskerne die Wohngebiete Ögstisriet, Lögert, LĂ€ui, Obweg, Egete und Understein. Neuere Wohngebiete sind dort Tornen, Neudorf und Bifig. - Soviel als allgemeine Umschreibung. Woher aber stammt der Name Sennwald, was bedeutet er, und wann tauchte er erstmals auf?

Das Dorf Sennwald von Nordosten her. Links aussen im Mittelgrund der Schlosswald, darĂŒber der Grabser Berg. Vorne rechts der Rheintaler Binnenkanal. Bild: Hans Jakob Reich.

Blenden wir zurĂŒck in das frĂŒhe 7. Jahrhundert. Damals ereignete sich in unserer Gegend eine Episode, die zunĂ€chst unbedeutend erscheinen mag, die aber nicht nur zur erstmaligen schriftlichen Nennung der Namen Sennwald und Grabs fĂŒhrte, sondern darĂŒber hinaus eine geschichtliche Bedeutung erlangte, welche die europĂ€ische Kulturgeschichte wesentlich mitprĂ€gte. Das um 820 aufgezeichnete Ereignis findet sich in der Lebensbeschreibung (Vita) des heiligen Gallus. Dieser hatte gut zweihundert Jahre zuvor – um das Jahr 612 – missionierend im Bodenseeraum geweilt. Der Glaubensbote sah sich nĂ€mlich genötigt, den Nachstellungen des Herzogs Cunzo von Überlingen auszuweichen. Er wandte sich nach SĂŒden und suchte Zuflucht bei den christlichen Glaubensgenossen im rĂ€tischen Raum, zu dem auch unsere Gegend gehörte. Nachdem er das waldbedeckte (nachmalige) Appenzellerland durchwandert hatte, ĂŒberquerte er den Alpstein und stieg (wohl von der SaxerlĂŒcke kommend) herab «in den Wald genannt Sennius» (lat. «in silvam vocatam Sennius»), eben dorthin, wo spĂ€ter die Siedlung Sennwald entstehen sollte. Er wusste, dass er «im nĂ€chsten Dorf» nach diesem Wald, nĂ€mlich in Grabs (damals Quaradaues geheissen), eine christliche Gemeinde antreffen wĂŒrde. Diese kirchliche Gemeinschaft wurde von einem Diakon namens Johannes geleitet. Bei diesem frĂŒhen Grabser fand Gallus nun Unterschlupf. War der Heilige zunĂ€chst gesonnen, seine Flucht ĂŒber die Alpen fortzusetzen, so vollzog sich hier, im Raum Grabs, der Sinneswandel, der Gallus zurĂŒck an die Steinach fĂŒhrte, an der er dann seine Klause erbaute und wo spĂ€ter Kloster und Stadt St.Gallen erstanden.

Wenig spĂ€ter, im Jahr 833, notiert die Gallus-Vita des Mönchs Walahfrid Strabo den Namen des Waldes als «Sennia» («heremum quae Sennia nominatur»). Und in einer Glosse des St.Galler Mönchs Ekkehart aus dem 11. Jh. heisst es von Grabs, dies sei der «Ort neben dem Wald genannt sennie» («Quadravades locus iuxta silvam sennie»). Und nochmals dreihundert Jahre spĂ€ter, im 14. Jh., wird in deutsch verfassten Urkunden bereits von einem Gut oder Hof «im Sennwald» gesprochen. Das lĂ€sst annehmen, dass damals die Rodung und Besiedlung des Dorfgebietes bereits fortgeschritten war. Nebenbei bemerkt, sagt der Einheimische auch heute noch «im Sennwald», wenn er nĂ€mlich das Dorf meint (in Erinnerung an den ursprĂŒnglichen Wald, der schon lange nicht mehr steht)! Das moderne «in Sennwald» wirkt in den Ohren des sprachbewussten Werdenbergers noch heute ein wenig abgehoben. Entsprechendes gilt auch fĂŒr die ganz junge Siedlung in der Talebene, Haag, was mundartlich «im Haag» heisst.

«Sennia», «Silva Sennius» - was sagen uns diese frĂŒhen Nennungen? Die geographischen Beschreibungen in den Gallus-Viten geben die VerhĂ€ltnisse wieder, wie sie in der ersten HĂ€lfte des 7. Jhs. vorherrschten. Das dem Wald Sennia sĂŒdwĂ€rts zunĂ€chst gelegene Dorf war damals Grabs (das noch nĂ€her liegende Gams war also damals offenbar noch kein Dorf; die Gamser Kirche wird erstmals im Jahre 835 erwĂ€hnt). Beim erwĂ€hnten Wald fĂ€llt einem natĂŒrlich der Schlosswald ein; dieser bedeckt heute noch die Erhebungen zwischen Salez, BĂŒsmig und dem heutigen Dorf Sennwald, welche durch einen vorgeschichtlichen Bergsturz verursacht worden waren. Damals erstreckte sich das Waldgebiet in der Talebene sicher noch weiter.

Sprachlich war im 9. Jh. die Gegend um das heutige Sennwald sicher noch romanisch, allenfalls bereits zweisprachig. Die lat. Bezeichnung «Silva Sennia» lautete altromanisch wohl etwa «selva (d') segna». Als nun das Deutsche neben der alten romanischen Landessprache aufkam und auch die Besiedlung des Gebietes sich verdichtete, wurde aus dieser alten Waldbezeichnung ein deutscher Dorfname gebildet. Allerdings in der Weise, dass das alte «Silva Sennia» nur halbwegs ĂŒbersetzt wurde - denn was der Namensteil «Sennia» ausdrĂŒcken sollte, war den Leuten offenbar nicht mehr bekannt. So entstand fĂŒr die am nördlichen Rand des verbliebenen Waldes entstandene Dorfsiedlung die neue Bezeichnung «Senn-Wald». Urkundlich wird der deutsche Name im Jahr 1351 fassbar – entstanden ist er sicher um einiges frĂŒher, als sich nĂ€mlich die ersten Alemannen neben den Romanen im Gebiet niederliessen.

So bleibt uns also noch das Element «Senn-», das urkundliche «Sennia», zu untersuchen (von dem anzunehmen ist, dass es als Senja zu lesen sei).

Sennwald vom Rheintaler Binnenkanal her gesehen. Vorne rechts Egete, dahinter die Kirche. Links der Lögerterberg, daneben der Einschnitt Schindleren; im Bild rechts herunter der Einschnitt des Rohrbachs. Bild: Hans Jakob Reich.

Da kam schon einmal ein Laienforscher auf die Idee, den Namen Sennwald mit dem deutschen Wort Senn ‘KĂ€ser’ in Verbindung zu setzen. Das ist in jeder Hinsicht unwahrscheinlich. Auch lateinisch signum ‘Zeichen’, romanisch segn, wurde bemĂŒht, und sicher ebenso vergebens. Um die richtige Lösung zu finden, mĂŒssen wir den Ausblick zunĂ€chst stark erweitern.

So gibt es französische Namen, welche das Element Saigne- enthalten: die Ortsnamen SaignelĂ©gier in den Freibergen (Jura) etwa, La Sagne (VD und NE) oder der Weiher (Ă©tang) Plain de Saigne in Montfaucon (JU). Aber auch in Frankreich, von den PyrenĂ€en bis zu den Vogesen, kommen entsprechende Namen vor. Sie leiten sich ab vom Wort saigne, das in französischen Regionalmundarten mit der Bedeutung ‘Sumpf, Röhricht’ existierte. Ähnliches lĂ€sst sich vom entsprechenden Worttyp in Norditalien und auch in GraubĂŒnden sagen: oberitalienisch sagna (auch segna, signa) hiess wiederum ‘Moor, riedige Stelle’ und ist als GelĂ€ndename auch im Tessin und in ItalienischbĂŒnden wohlbekannt (etwa Sagno im Mendrisiotto oder Massagno bei Lugano). Und auch aus dem altrĂ€toromanischen Gebiet DeutschbĂŒndens kommt nun eine Reihe von Namen zum Vorschein, welche mit den bisher genannten zusammengehören: NĂ€mlich der Weilername Segnas bei Disentis, der Alpname Sennis in Flums sowie (in einer Zusammensetzung) der Ortsname Valzeina im PrĂ€ttigau. Die AufzĂ€hlung geht noch weiter: das Zeinisjoch in Gaschurn (Montafon) gehört ebenso hierher wie auch das Zenisloch auf der Gemeindegrenze Gams–Sennwald (zwischen SchĂ€ferwald und Bisser): auch Zenis- enthĂ€lt das fragliche Element. Da kann es nicht mehr verwundern, dass auch unser Ortsname Sennwald mit seinem Senn- dieser Wortfamilie angehört!

Doch wie kann ein und derselbe Worttyp von den PyrenĂ€en bis zu den Vogesen und von Oberitalien bis ins Werdenberg seine Spur hinterlassen haben? Die ErklĂ€rung liegt im Umstand, dass es sich um ein sehr altes Wort aus der vorchristlichen Epoche handelt, das also nichts mit dem Lateinischen zu tun hat, auch nicht keltisch ist, sondern (als noch Ă€ltere Schicht) in den oben umschriebenen RĂ€umen aus einer nicht nĂ€her bekannten VorgĂ€ngersprache stammte, von wo aus es zunĂ€chst in das Keltische und dann (von dort aus) auch in die jeweiligen neolateinischen (romanischen) Regionalsprachen gelangte: Wir berĂŒhren hier einen vorgeschichtlichen Bereich, in dem uns vieles noch unbekannt ist.

Dass das Wort aber auch im Altromanischen einmal verstanden wurde, lĂ€sst sich annehmen aufgrund von Namenzusammensetzungen wie Valzeina (< val d’segna ‘Tal mit MoorflĂ€chen’) oder unseres Namens Sennwald (<*selva d’segna ‘Moorwald’), die ja in ihrer Entstehungszeit offenkundig noch sinnhaft waren. Der bloss halbĂŒbersetzte Übergang zum deutschen «Senn-Wald» zur Zeit der romanisch-deutschen Zweisprachigkeit wiederum scheint darauf hinzudeuten, dass nun das altromanische segna offenbar abzusterben im Begriff war und darum nicht mehr ĂŒbersetzt wurde, sondern als unverstandenes Element Senn- neben dem deutschen -Wald stehengelassen wurde.

Das leuchtet ein. Und auch sachlich ist die Deutung des Dorfnamens ohne Zweifel plausibel: Der mit FelstrĂŒmmern ĂŒbersĂ€te Schlosswald war frĂŒher auf drei Seiten von grossen Riedgebieten umgeben, sind doch auch heute noch Moorstellen vorhanden, so etwa in den Gebieten Galgenmad und Fröschenmad.

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