Im ersten vorchristlichen Jahrtausend war der Raum des westlichen Alpengebietes und des heutigen schweizerischen MittelÂlandes bis zum Arboner Forst, den Glarner und Urner Alpen vom keltischen Volk der Helvetier bewohnt. In der schwäbisch-bairischen Hochebene nördlich des Bodensees sassen die keltischen Vindeliker und in den Ostalpen die illyrischen Noriker. Das Gebiet des heutigen Tessins war im Besitz eines weiteren keltischen Volkes, der Lepontier. Dazwischen dehnte sich das Siedlungsgebiet der Räter, eines Volkes oder Völkergemischs, von dem uns antike Schriftsteller in zahlreichen Zeugnissen oberflächliche Kunde geben, deren sprachlich-ethnologische Zugehörigkeit aber bis heute von der Forschung nicht hat geklärt werden können. Die rätische Sprache ist gänzlich unbekannt, abgesehen von wenigen Inschriften aus dem Raum Bozen-Gardasee-Veltlin (nicht aber aus GraubĂĽnden und dem Rheintal!) sowie einer Anzahl Ortsnamen, die aber nur unsicheren Zeugniswert haben und keine auch nur einigermassen verlässlichen Folgerungen erlauben. Sie sind aber immerhin geeignet, uns Hinweise auf die einstige Verbreitung ihrer Herkunftssprache zu geben.
Nach dem heutigen Wissensstand umfasste das Kerngebiet der Räter die sĂĽdlichen Alpentäler von Belluno (Piavetal) bis zum Comersee, sĂĽdwärts bis zu den Städten Verona und Brescia in die oberitalienische Poebene vorstossend, nordwärts einschliesslich des Veltlins und des Vintschgaus bis zu den Ă–tztaler Alpen reichend. Eisacktal, Pustertal und das Tiroler Inntal mit seinen Nebentälern waren dagegen nicht mehr rätisch. Von hier setzt sich der rätische Siedlungsraum fort ĂĽber das Engadin in das bĂĽndnerische und das st.gallisch-liechtensteinisch-vorarlbergische Rheintal bis zum Bodensee, wo er gegen Westen, durch GebirgszĂĽge und Waldgebiete abgegrenzt, an das Gebiet der Helvetier, nordwärts an den Bereich der VindeliÂker stiess. Strabo bemerkt an mehreren Stellen, dass am Bodensee zur Hauptsache Helvetier und Vindeliker wohnen und «zu einem kleinen Teil» Räter (Meyer 1971, 6).
Der in der späteren Geschichte als Rätien oder Churrätien bezeichnete Raum Graubündens und dessen nördlichen Vorlandes stellt also durchaus nicht das Kerngebiet, sondern lediglich einen vorgeschobenen nordwestlichen Ausläufer des rätischen Verbreitungsraumes dar. In diesem Raum lebte eine grosse Zahl von sprachlich und ethnologisch wohl uneinheitlichen, kulturell allenfalls einander angeglichenen Stammeseinheiten. Soviel lässt sich aus den genannten - teils widersprüchlichen - Berichten der antiken Geschichtsschreiber herauslesen, die im übrigen ein wenig einladendes Bild von der wilden Grausamkeit und rohen Kriegslust des Rätervolkes zeichneten. Nun waren freilich dazumal die Kenntnisse über die Alpen und deren Bewohner bei den Römern noch ausgesprochen dürftig, und so mag hier manche Schilderung stark übertrieben oder durch propagandistische Absichten der Römer gefärbt erscheinen.
Zu den als rätisch bezeichneten Stämmen im rheintalischen Raum zählen einmal die Vennonen (auch als Vennoneten oder Vennontes überliefert) im unteren St. Galler und Vorarlberger Rheintal. Trotz Strabons Angabe, sie seien Vindeliker (also Kelten), haben sie als Räter zu gelten (vgl. Malin 1958, 16, N. 54); allerdings waren sie aber von ihren nördlichen Nachbarn, den um Bregenz siedelnden vindelizischen Brigantiern, in ihrem Volkstum keltisch stark beeinflusst. Von den Vennoneten leitet sich der ältere Name des Bodensees, lacus Venetus, her; ihrem Stammesnamen gleicht aber auch die frühmittelalterliche Benennung Rankweils, Vinomna oder Vinonna, so auffällig, dass auch hier ein Zusammenhang wohl sicher besteht (vgl. Bilgeri 1976, 18; anders etwa Planta 1920, 64, der ein keltisches Vindobona vermutet; vgl. ferner eingehend Zehrer 1971, 91f.).
In Rankweil, das auch später, im karolingischen Unterrätien, eine wichtige Stellung als Gerichtsort einnahm, darf denn auch mit Bestimmtheit der Hauptort der Vennoneten gesehen werden (Bilgeri 1976, 18). Die Vermutung ist nicht von der Hand zu weisen, dass die politische Raumbildung im frühmittelalterlichen Rheintal auf den alten Stammesgrenzen aufbaute, das Gebiet der Vennoneten also später den Grenzen des karolingischen Ministerium Vallis drusiana entsprach.
Entsprechend dürfte das Stammland der Kalukonen, die weiter südwärts den Raum bis gegen Chur besiedelten, im 9. Jh. zur Bildung des Ministerium in Planis geführt haben (vgl. Malin 1958, 19; Pieth 1945, 33), jenes Gebietes also, das von Grabs und Tisis über das Sarganserland bis an die Landquart reichte (Bilgeri 1976, 53).
Nun ist zwar das Rheingebiet als nordwestliche Randzone des rätischen Raumes wenigstens gegen Westen durch natürliche Barrieren gegen das Siedlungsgebiet der Kelten abgegrenzt. Dennoch waren hier starke keltische Einflüsse wirksam, die das rätische Volkstum zunehmend umgeformt haben. In Graubünden waren es die keltischen Lepontier, welche von Süden her in das Gebiet des Vorderrheins herübergriffen und dort sowohl in archäologischen Funden (im Lugnez und in Darvella bei Trun) als auch in Ortsnamen (etwa Dardin, Breil, Räzüns; vgl. RN 2) ihre einstige Präsenz dokumentieren. Der Fund eines lepontischen Grabsteins in Raschlinas (Heinzenberg) belegt ihre Niederlassung auch im Hinterrheingebiet, wo mit Brienz, rtr. Brinzouls, im Albulatal auch wieder ein keltischer Ortsname erscheint (zusammen mit Bregenz und Brienz BE enthält der Name ein keltisches brigant- zu brig[a] 'Berg'; RN 2, 51).
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Die Schweiz zur Zeit der römischen Eroberung (1. Jh. v. Chr.). - Aus: Wikipedia (unter: Helvetier). Autor: Marco Zanoli.
Ein entsprechendes Übergreifen keltischer Volksteile und Kultureinflüsse vollzog sich nun auch im Rheintal zwischen Chur und Bodensee, nur erfolgte hier der Einbruch vom vindelizischen Norden her. Im Vorarlberger, Liechtensteiner und Bündner Rheintal hat das Keltentum in den Namen von Wasserläufen und Ortschaften so deutliche Spuren hinterlassen, dass dort eine zunehmende sprachliche Vorherrschaft des Keltischen über das Rätische vermutet werden darf (Bilgeri 1976, 18f.): Man denke an die Flussnamen Emme, Frutz, Frödisch (loc. cit.; zu Emme jedoch Zehrer 1971, 98), oder an Siedlungsnamen wie Röns, Düns, Göfis, Tosters, Schlins, Eschen, Bendern, Nendeln (Zehrer 1971, 85ff.), dann Mäls FL, Mels SG, Tscherlach (Sonderegger 1979, 223), Maien(feld), Prättigau, Zizers, Chur (RN 2 und Sonderegger 1979, 221ff.).
Daneben ist nun aber im Rheingebiet eine ältere Schicht vorrömischer Namen erhalten, die sich aus dem Keltischen nicht deuten lassen, und die ein Fortbestehen des rätischen Volkstums auch in der Zeit der keltischen Vormacht augenscheinlich machen. Hierher gehören etwa Namen wie Bludenz, BĂĽrs, NĂĽziders, Vinomna (Rankweil), Schnifis, Tisis, Götzis (vgl. Zehrer 1971, 90ff.), dann als Träger des Suffixes -iste, -este die Namen Peist und Andiast (auch Imst in Tirol und Triest Italien; vgl. Sonderegger 1979, 222), ferner die ĂĽber Churrätien verbreiteten Namen vom Typ Patnal, die oft urÂgeschichtliche Fundstätten bezeichnen (vgl. Sonderegger loc. cit.; hierher auch Portnol (Sevelen) und evtl. †Patael (Grabs); vgl. auch Stricker 1991, 13, N. 21).
Auffällig ist, dass in der linksrheinischen Talhälfte, also im St.Galler Rheintal, so gut wie alles vorrömische Substrat im Namengut fehlt (Hammer 1973, 165); eine Ausnahme bildet der appenzellische Hügelname Gäbris (Sonderegger 1979, 223: zu keltisch gabreta 'Geissberg').
Während das zur indogermanischen Sprachfamilie zählende Keltische sprachlich gut erforscht ist, sind unsere Kenntnisse in bezug auf das Rätische sehr beschränkt. So bereitet oftmals die blosse sprachliche Zuteilung vorrömischer Namen erhebliche MĂĽhe bzw. ist beim gegenwärtigen Wissensstand oft gar nicht möglich. Sicher nicht keltisch sind Namen, die auf P- anlauten (etwa Patnal, Plessur, Peist, usw.), denn altes P- hat sich im Keltischen gar nicht erhalten. Dies macht verständlich, dass die sprachlichen Verhältnisse unseres Raumes vor der Zeitenwende in vielem ungeklärt geÂblieben sind.
Nach Auffassung der jüngeren Sprachwissenschaft handelt es sich beim Rätischen um eine nicht-indogermanische Sprache wohl aus der gleichen mediterranen Schicht, der auch das Etruskische angehört (Meyer 1971, 10). Eine Verbindung des Rätischen mit dem Illyrischen des antiken Dalmatiens dagegen muss fallengelassen werden; dies entgegen der älteren Lehrmeinung, die bis um die Mitte des 20. Jhs. vorherrschte und in den Illyrern die Lösung des Räterproblems erblickt hatte (vgl. Risch 1971, 14).
Neuerdings ist auch die These verfochten worden, das Rätische würde sich mit dem Semitischen (Akkadischen) verbinden lassen (vgl. dazu namentlich Brunner 1969; Brunner/Toth 1987; ferner: Räterproblem). Die Ansicht ist seither kontrovers diskutiert und nicht immer sachlich bekämpft worden. Sie wird vom Ansatz her kaum grundsätzlich abzulehnen sein, ist aber weiterhin hypothetisch und mit Zurückhaltung aufzunehmen.
Die politische Geschichte der vorrömischen Alpenvölker ist weitgehend in tiefes Dunkel gehüllt. Eine an Zahl bereits beträchtliche Bevölkerung lebte an den fruchtbaren Flanken und Hängen des Tales meist abseits der sumpfigen Ebenen in kargen Verhältnissen, mittels Viehzucht, Fischfang, Jagd, Waldnutzung und Ackerbau ihre Bedürfnisse deckend.
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